NIDDERAU
Bürgermeister- und Gemeindeportrait: Bürgermeister Gerhard Schultheiß
Fotos: Joana Gibbe
Dienstag, 06.08.2019
Die schöne Stadt Nidderau zählt über 20.000 Einwohner, die sich auf fünf Stadtteile verteilen. In einem dieser Stadtteile lebt auch Bürgermeister Gerhard Schultheiß (SPD) mit seiner Frau. Der 56-jährige lebt bereits seit seiner Kindheit in Nidderau und ist Vater einer Tochter.
Was gibt es zur Geschichte der Stadt zu erzählen?
Die Geschichte Nidderaus reicht, wenn man die ersten historischen Erwähnungen und Funde beschreiben will, bis zu den Bandkeramikern. Sehr rührig in der Forschung ist neben den Geschichtsvereinen der Verein für Vor- und Frühgeschichte im unteren Niddertal. In Nidderau wurden schon sehr viele Funde ans Licht gebracht, unter anderem ein Skelett, das man in den 90ern im Baugebiet Allee Süd zum Niddi gekürt hat, als eine Anspielung auf den Ötzi, und das setzt sich natürlich fort. In der Betrachtung der historischen Entwicklung gibt es sehr viele rührige Menschen und Ehrenamtler in den Geschichtsvereinen, die bändeweise die Geschichte in der Reihe Nidderauer Hefte niedergeschrieben haben. Es kann also, soweit die Ausgabe nicht vergriffen ist, jeder auf die Historie zurückgreifen, durchaus auch auf den Stadtteil bezogen. Da ist herausragend die Stadtrechtsverleihung durch Rudolf von Habsburg im Jahr 1288 zu nennen, was uns das Attribut einer Stadt und nicht Gemeinde verleiht. Dieses Recht hat Windecken in die Stadtgründung eingebracht. Und jeder Ort hat so seine Eigenart, es gibt ja auch von einer bestimmten Bäckerei Pralinen, die die Eigenarten der Stadtteile ein bisschen herausheben sollen, von Champagnerluft über Rosenduft usw. - ein kleines Schmankerl am Rande.
Wodurch zeichnet sich die Stadt aus?
Ich denke durch unser Wachstum, speziell in den 80er und 90er Jahren. Es gab immer Fortschritt und Einwohnerzuwachs durch die Baugebiete. Wir sind ja wirklich von einer kleinen Einheit aus den beiden Kommunen Heldenbergen und Windecken angewachsen zu einem etwas größerem Gemeinwesen. Mittlerweile sind wir die fünftgrößte Kommune im Main-Kinzig-Kreis. Für mich ist immer der Maßstab, wie schauen Menschen von außerhalb auf uns und da hat zuletzt ein junger Mann in etwa gesagt ‚Mensch, wie die Stadt hier aufgebaut wird, das ist für uns hier sozusagen eine Metropole, ein Treffpunkt‘. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber Nidderau ist halt gewachsen, hat mehr Angebote, auch durch die Entwicklung der neuen Mitte und des Nidder Forums, da ist einiges dazugekommen, was uns gefehlt hat. Das dynamische Wachstum war zuletzt ein wenig gebremst, aber in Zyklen holen wir neuen Schwung. Wir sind nämlich trotz der Neubaugebiete zwischendurch auch wieder unter die 20.000 Einwohner gerutscht und konnten es uns gar nicht erklären.
Jetzt kann man sagen: Die Vielfalt in der Einheit macht uns aus, das heißt, wir haben dörfliche Strukturen, wunderbare Naturräume, wir sind angeschlossen über die Bonifatius-Route, Bahnradweg, Hohe Straße, Apfelwein- und Obstwiesenroute, also freizeittouristische Routen, haben die Nidder als Flusslauf, der der Stadt den Namen gab. Wir liegen an der Nidder-Aue, also lag Nidderau nahe. Damit einhergehen auch hervorragende Erlebnisse wie die Wiederansiedlung des Storches, der hier auf über zehn Masten sein Brutgeschäft abwickelt und immer mehr Zuwachs verzeichnet. Das sind Indikatoren, vom Eisvogel bis zum Biber, die unseren Naturhaushalt in einem guten Licht erscheinen lassen. Im Umkehrschluss muss aber auch auf die harten Faktoren wie Verkehr und Gewerbe geachtet werden. Durch die Ortsumgehung ist das Gewerbegebiet „Lindenbäumchen“ besser erschlossen, die Nachfrage steigt und es sollen sich zügig noch mehr Firmen ansiedeln. Auch die Gesamtinfrastruktur ist Zug um Zug ausgebaut worden, Bürgerhäuser, Kindertagesstätten, Spiel- und Bolzplätze, Familienpark Allee Süd usw. Ich glaube, wir haben einen Mix, der sich sehen lassen kann. Und nebenbei ist es ein schöner Nebeneffekt, dass wir laut einer Wetterstation von Meteomedia (Köln) mehrfach die sonnenreichste Stadt Hessens waren. Das war achtmal in den letzten 14 Jahren der Fall gewesen.
Welche Highlights gibt es hier? Was sind Ihre persönlichen Lieblingsplätze in der Stadt?
Das ist angesichts der vielen schönen Plätze schwer zu benennen. Da ich ein bisschen Naturfotografie betreibe, gibt es ein Gebiet in Windecken, das nennt sich Bornwiesen, ein Naturschutzgebiet, wo ich am Rande meinen Fotoplatz einnehme und dann schaut man, was sich bewegt, das ist sehr schön. Wie aber auch die Auen bei Ostheim und Eichen, da sind auch Storchenmaste und man sieht Greifvögel sowie allerhand Nieder- und Rehwild. Man bekommt wunderbare Einblicke in die Natur. Fahrradtouren mache ich sehr gerne hier in Nidderau. Die „Fünf-Stadtteile-Tour“ ist etwas, was man genießen kann, mit E-Bike-Unterstützung gebe ich zu. Aber da gibt es den Wartberg mit 202 Metern bei Erbstadt, das ist der höchste Punkt und von da hat man wirklich einen grandiosen Ausblick. Man sieht einen Teil der Frankfurter Skyline, ins Umland bis in den Spessart und hat im Grunde fast ganz Nidderau vor sich liegen.
Wo wollen Sie mit der Stadt in Zukunft hin? Welche Ziele gibt es für die Stadt?
Also Ziele gibt es noch eine ganze Menge. Wir wollen unbedingt Mittelzentrum werden. Wir denken, dass wir alle Voraussetzungen dafür erfüllen. Leider werden wir aber seit zehn Jahren vom Land hingehalten. Für uns würde das eine hübsche Mehreinnahme im kommunalen Finanzausgleich bedeuten und von der Finanzverwaltung wurde es berechnet: das wären rund 1,8 Millionen Netto. Das ist der Betrag, den wir leider per Grundsteuererhöhung in 2019 von den Menschen zusätzlich abholen mussten, weil die Ausgaben für Kinderbetreuung und vieles andere explodiert sind. Der Titel „Mittelzentrum“ wäre die Anerkennung für unsere vorbildliche Entwicklung und entspricht dem Anspruch des zentralörtlichen Systems, aber auch auf der finanziellen Seite wollen wir das verfolgen.
In Eichen ist ein neues Feuerwehrgerätehaus zu bauen. Von der Windecker Gemarkung, genauer der Allee Süd, ausgehend bis nach Heldenbergen zur Allee Nord packen wir neue Baugebiete an, das wollen wir genauso mit der Bauland-Offensive Hessen lösen wie das Baugebiet in Ostheim (Mühlweide) oder das Mischgebiet in Eichen.
Wir haben den Auftrag, eine Seniorendependance möglichst im Stadtteil Eichen oder Erbstadt zu errichten, damit auch die älteren bzw. pflegebedürftigen Menschen hier wohnen bleiben können. Im sozialen Wohnungsbau bzw. mietpreisgünstigen Wohnungsbau müssen wir seitens der Stadt unbedingt tätig werden. Hier sind wir stark gefordert, weil seit 20 Jahren kein sozialer Wohnungsbau in Nidderau mehr stattgefunden hat, das ist eine Lücke. Kindertagesstätten stehen in der Neubauplanung für Heldenbergen und für Eichen an. Also es gibt kein Ruhen hier in einer sozusagen gesättigten Lage, sondern Nidderau erlebt ständig neue dynamische Zyklen der Entwicklung.
Was steht hier in nächster Zeit an?
Festlichkeiten, die unmittelbar anstehen, sind die 50-Jahrfeier der Stadt Nidderau im nächsten Jahr durch die Stadtgründung am 1. Januar 1970. Wir sind gerade dabei, eine Festwoche aufzulegen, dies unter Einbindung aller Vereine und Stadtteile und nicht nur der Gründerkommunen Heldenbergen und Windecken. Des Weiteren steht im nächsten Jahr das Jubiläum „100 Jahre Freiwillige Feuerwehr Ostheim“ an und viele andere Aktivitäten der Vereine, sodass wir sagen können, alle Vereine können sich unter den Bogen ‚50 Jahre Nidderau‘ stellen und sich damit selbst einbringen in die Vielfalt dieser Stadt. Unser Motto lautet ja ‚Lebendige Stadt mit Geschichte‘. Das spiegelt sich auch im Ehrenamt wider, die Vereine stellen wirklich tolle Angebote auf die Beine.
Was sind Ihre Interessen als Bürgermeister/in und privat?
Als Bürgermeister war es immer mein Anspruch, dass man für die Menschen da sein muss. Dies durfte ich von September 1979 an (ich feiere dieses Jahr mein 40-jähriges Dienstjubiläum im öffentlichen Dienst), also von der Pieke auf, von meinen Vorgängern Willi Salzmann und Otfried Betz lernen. Das spiegelt sich auch in der Haltung wider, möglichst viele Vereinsveranstaltungen zu besuchen, wobei es unmöglich ist, allen gerecht zu werden. Also man löst auch immer mal wieder Unmut aus, wenn man nicht da war, aber man muss auch Mensch bleiben und am Wochenende mal sagen können, dass es noch die Familie gibt.
Man tritt im Laufe der Jahre und Jahrzehnte Menschen auch mal auf die Füße. Aber wenn man morgens in den Spiegel schaut, muss man sich selbst und seine Position erkennen können. Eine wichtige Erkenntnis ist dabei, nicht beim leisesten Wind umzufallen, man muss dazu stehen, was man sich zum Ziel genommen hat, sonst hätten wir kein Kino, wofür ich gekämpft habe, und die Ortsumgehung würde wahrscheinlich heute noch auf ihre Realisierung warten, wenn ich nicht 2006 eine Unterschriftenaktion gegen eine Umplanung auf Vierspurigkeit initiiert hätte. Gleiches gilt für die Neue Mitte und das Nidder Forum.
Privat versuche ich den Ausgleich durch die Naturfotografie herzustellen, das mache ich sowohl hier in Nidderau als auch auf Urlaubsreisen, in Bayern beispielsweise oder im Herbst wieder an der Ostsee, wenn Kranichzug ist und Hirschbrunft. Seltener geht es nach Afrika. Hier gab es letztes Jahr die Gelegenheit, drei Wochen in Kenia zu verbringen und dabei mit dem Tierfilmer Dr. Reinhard Radke ein paar Tage gemeinsam das Wildlife zu erleben.
Das sind dann die Ausgleichsmomente, die man hat, neben ein bisschen Fliegenfischen als Hobby, wenn die Flüsse es hergeben. Freizeit und Erholung mit der Familie muss auf jeden Fall möglich sein.
Was wollten Sie als Kind beruflich machen?
Ich habe keine bewusste Erinnerung, dass ich mir irgendetwas Bestimmtes vorgenommen hätte, da gab es keine Prägung. Die Berufsfindung war eher spontan. Eigentlich war schon der Gang zur Lichtenberg-Oberstufe vorgesehen und dann hat meine Mutter eine Anzeige gelesen, dass die Stadtverwaltung einen Auszubildenden sucht und dann hat es sich einfach so ergeben. Und dass man Bürgermeister wird, kann man sowieso nicht planen.
Wie sind Sie Bürgermeister/in geworden, welchen Werdegang haben Sie hinter sich?
Den Beruf des Bürgermeisters kann man nicht erlernen, das wissen alle, es gibt dieses Berufsbild nicht. Man muss selbst empfinden und prüfen, ob man sich dafür geeignet hält und profilieren kann, später wurde ich auf die Möglichkeit als Kandidat angesprochen, das hat sich im Laufe der Jahrzehnte ergeben. Vielleicht auch, weil die fleißige Arbeit in der Verwaltung als Verwaltungsfachwirt anerkannt wurde. Mein Amtsvorgänger hat mich zu gegebener Zeit gefragt hat, ob ich mir das zutrauen würde. Mit der Übergangszeit, dass er im Mai 1997 aus dem Amt scheiden würde, haben wir 1996 über die Kandidatenkür der SPD als Erster Stadtrat (Amtsantritt am 1.8.1996) und entsprechende Beschlüsse in der Stadtverordnetenversammlung die Weichen für die Direktwahl Ende November 1996 gestellt. Ich hatte das Glück, unter vier Bewerbern im ersten Wahlgang gewählt zu werden und trat mein Amt als Bürgermeister am 15. Mai 1997 an.
Was sind Ihre Zukunftsvisionen für die Stadt und für Sie als Privatperson?
Also wichtig wäre mir, dass der Zusammenhalt in der Stadt erhalten bleibt. Wir haben da leider schon ein paar Strömungen erlebt, auch im politischen Raum, die eher auf das Auseinanderdividieren ausgerichtet waren. Da verändert sich was in der Gesellschaft, dass immer mehr die Ellenbogen ausgepackt werden und die Menschen mehr gegeneinander als miteinander arbeiten und meine Vision wäre, dass sich dieser Trend umkehrt.
Auch vor dem Hintergrund, was in Deutschland gerade passiert. Menschen tendieren leider zu rechtsradikalen Wahrnehmungen und das wird goutiert, es wird geschwiegen und hier muss sich radikal was ändern, sonst laufen wir in eine Gesellschaftsform rein, die gefährlich ist, nicht nur für Deutschland. Es gibt auch positive Beispiele, z. B. weil Vereine und das Ehrenamt sehr viel Buntes an Vielfalt und kulturellem Leben präsentieren und da sieht man, dass es das natürlich auch noch gibt und es muss wieder die Oberhand gewinnen.
Wenn Sie sich eine Superkraft aussuchen könnten, welche würden Sie wählen und wieso?
In die Zukunft schauen zu können, um die richtigen Weichen stellen zu können.
Was halten Sie denn von unserem neuen Format „Kinzig.News“?
Unbedingt lobenswert, ich habe die Osthessen|News auch verfolgen dürfen in der Vergangenheit und wir haben jetzt gerade im Kreis eine touristische Initiative am Start, dass alles was am Main und Kinzig lebt, sich als Gemeinschaft versteht. Also Identität im Main-Kinzig-Kreis ist etwas, was noch nicht in alle Köpfe rein gegangen ist, da ist es ja manchmal schon stadtintern schwierig zu sagen, wir verstehen uns alle als Nidderauer, als Maintaler, als Sinntaler. Diese Identität kann mit dem neuen Format „“Kinzig.News“ gefördert werden und damit auch ein Mehrwert sowohl in der Touristik als auch in der Wahrnehmung der Menschen entstehen. +++