MAIN-KINZIG-KREIS
Eine wirklich vernünftige Geschichte für das Jahresende
Symboldbild: Pixabay
Samstag, 01.01.2022
Zum Jahreswechsel: Eine Geschichte aus dem Buch "Weihnachten fällt wohl ins Wasser" von Kurt F. Svatek. Zur Verfügung gestellt vom TRIGA Verlag in Gelnhausen. Viel Spaß beim Lesen!
»Schreib doch einmal eine wirklich vernünftige Geschichte für das Jahresende«, riet mir vor Jahren ein Freund, »ein wenig kitschig und mit Zuckerguss darf sie schon sein, ist ja erst knapp nach Weihnachten.« Ich brauche nicht zu betonen, dass unsere Freundschaft seither nur mehr auf Sparflamme brennt. Ich führte das Gespräch jedoch weiter:
»Du hast recht. Leider schreiben aber schon so viele Leute Horoskope. Alle Zeitungen und Illustrierten sind voll davon. Und Bücher darüber gibt es zuhauf. Chinesische Voraussagen sind besonders gefragt. Aber wir sind im Jahr des Hundes, und ich bin eine Ratte. Das geht sicher nicht gut.«
Sind Horoskope der Renner?
Mein Freund verlor ein wenig seine gute Laune: »Ich mein’s ernst. Sonst bist du keine Ratte, sondern ein Ochse.« »Ich auch. Zum Jahreswechsel sind Horoskope der Renner.« »Lass dir doch helfen. Du sollst nicht immer so ätzend sein. Bemüh dich doch um eine wirklich schöne passende Geschichte.« »Ein Krippenspiel wäre reizvoll. Vielleicht fürs Burgtheater?« Mein Gesprächspartner wurde ungeduldig. »Mit dir kann man heute kein vernünftiges Wort reden.«
»Stimmt«, fiel ich ein, »aber nur heute und mit dir. Trotzdem, Horoskope wären reizvoll. Über etwas zu schreiben, das erst geschehen soll und wovon man eigentlich eine Ahnung haben kann, ist doch viel interessanter, als darüber zu berichten, was längst war. Als Nostradamus des zwanzigsten Jahrhunderts oder als Seni unserer Regierung.« »Du kannst doch etwas Aufbauendes für das neue Jahr schreiben. Überlege, was in den letzten Wochen denn so geschehen ist, welche Erfahrungen du gemacht hast.«
Ich überlegte. Die letzte Erfahrung war, dass der Betrieb, der die Gehsteige vom Schnee säubern sollte, den ganzen Tag über nicht kommen konnte, weil abends zuvor Weihnachtsfeier war. Ein gehöriger Teil der Belegschaft blieb einfach zu Hause. Wahrscheinlich räkelte man sich einfach im Bett und ließ es eben schneien. Weder Pflichtgefühl noch Sorge um die Zukunft der Familie brachte die Männer auf die Beine. Obwohl einige, wie ich hörte, dann fristlos entlassen wurden. Solange wir noch Hausbesorger hatten, war der Gehsteig immer in Ordnung gewesen. Aber die wurden ja eingespart.
"Denk an den Herbst zurück..."
»Denk
an den Herbst zurück.« Im Herbst? Da sah ich meinen Nachbarn Gift auf
sein Erdbeerbeet im Schrebergarten streuen, das alles Unkraut von
selbst vernichten sollte. Er tat dies nicht zum ersten Mal und lobte
die gute vorjährige Ernte. Denn Dünger war natürlich auch gleich dabei.
Im
Übrigen freute er sich, dass sein Gärtlein schon über längere
Zeit von Hasen oder Fasanen verschont geblieben war. »Schau doch aus dem
Fenster. Vielleicht entdeckst du da etwas.« Ich sah aus dem Fenster. Es
war kalt draußen und alles heizte. Schwarzer Rauch lag über den
Dächern. Er stammte aber nicht aus Gasheizungen, nicht von Holz oder
Heizöl. Er stammte bestenfalls aus billigster Braunkohle. Aus manchen
Rauchfängen schienen sogar Schwaden verbrannten Schweröls zu strömen.
»Tolle
Zukunftsaussichten«, meinte ich. »Der Mensch erfindet Tag für Tag
Neuartiges, zugegeben ist auch viel Gutes darunter, verbrennt sich aber
nur zu oft die Finger daran. Er kommt mit Gift, Bomben, Landminen,
Naturschätzen und der Zeit nicht ganz zurecht. Obwohl nicht so sehr die
Dinge an sich bedrohen, sondern der schon fast grundsätzlich falsche
Umgang mit ihnen. Die
Besinnung kommt bestenfalls mit der eigenen
Gefährdung, nicht der des Nachbarn. Manche nennen diese Entwicklung
Evolution und meinen, dass der Mensch eben nur durch Bedrohung lernt,
also durch Schaden klug wird. Wenn überhaupt …«
Das Papier, das schon eine ganze Weile vor mir lag, war immer noch blütenweiß gebleicht und dennoch unschuldig. Der Kugelschreiber daneben schien ohne Aufgabe. Plötzlich war ich stolz, das jungfräuliche Blatt nicht mit vielleicht unsinnigen Buchstaben verunziert zu haben. Es lag so rein vor mir wie das neue Jahr.
Doch schon im nächsten Augenblick war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ein neues Jahr wirklich so unschuldig daherkommt, wie wir glauben. Hat es doch schon all die Belastungen seiner Vorgänger mit im Gepäck. So malte ich in die Mitte des weißen Bogens einen großen dunklen, fetten Klecks.