Mathe handgreiflich beim Weidenruten-Schneiden

Dienstag, 09.03.2021
BIRSTEIN - „Transporter“ ruft es hinter einem Kopfweiden-Stamm. Sofort sausen einige Kinder los, die selbst kaum größer sind als die niedrigen Stämme auf der Baumplantage oberhalb von Birstein-Kirchbracht. Sie nehmen die abgeschnittenen Ruten entgegen und bringen sie zum Sammelplatz. Dort warten schon viele Bündel auf die Abholung durch den großen Traktor.
Eine Woche lang sind die elf Kinder vom Naturkindergarten „Lämmerschlupp“ zusammen mit ihren Betreuerinnen Tag für Tag den Volkartshainer Weg hinaufgewandert. Dort wächst der Rohstoff für Korbflechterin Gudrun Müller. In diesem Frühjahr hilft der „Lämmerschlupp“ bei der Ernte der einjährigen Weidentriebe.
Zunächst aber streifen die Zwei- bis Vierjährigen durch die Plantage – aus Kindersicht ein wahrer Irrgarten. Nach der Erkundung wollen die Kinder helfen. Die älteren dürfen mit Anleitung unter Aufsicht schon selbst mit der Heckenschere ernten, die jüngeren machen sich als „Transporter“ nützlich.
Ganz nebenbei und in Bewegung mit viel Lachen findet hier Lernen statt, wie Kindergarten-Leiterin Nicole Krauthan erklärt: „Die Kinder machen sich mit elementaren Grundlagen der Mathematik wie Ordnen, Messen und Zählen vertraut. Sie unterscheiden beim Bündeln dicke und dünne, lange und kurze Ruten. Sie lernen Mengenlehre, wenn mittlere Ruten zum einen und zum anderen Bündel gehören könnten. Sie zählen mit, wie viele Ruten sie auf einmal tragen können.“
Mathematische Konzepte seien abstrakt, der Zahl „zehn“ könne niemand im Alltag begegnen, sagt Krauthan. Sehr wohl aber lasse sich erleben, dass sich zehn Ruten schwerer tragen als drei und dass der Transport von längeren Ruten mehr Umsicht verlangt als der von kurzen. „Auch wird hand-greiflich erfahren, dass fünf dicke Ruten mindestens so schwer zu schleppen sind wie zehn dünne.“ Der Umgang mit Strukturen, Mustern und Regelmäßigkeiten helfe Kindern zu verinnerlichen, wie Muster funktionieren. So werde der Grundstein gelegt für ein tiefergehendes Verständnis unseres Zahlensystems. Weil die Kinder dabei unterwegs seien und den Gegenstand der Erkundung fühlten, verankere sich ihr Wissen viel tiefer, als wenn es nur am Tisch stattfinde. „Die Basissinne werden stimuliert, dadurch wird integriert wahrgenommen, was weitere Verknüpfungen erleichtert und das Hirn auf Trab bringt“, schildert Krauthan, wie ideales Lernen im Vorschulalter funktioniert.
Später im Jahr, wenn Gudrun Müller die Weidenruten entsprechend präpariert hat, werden die Kinder sie in der Korbflechterei besuchen um zu sehen, was aus ihrer Ernte wird. „So lernen sie Schritt für Schritt, was es braucht, um einen langlebigen Korb zu machen. Dieses traditionelle Handwerk ist gelebte Nachhaltigkeit“, sagt Krauthan. „Unsere Osterkörbchen wollen wir uns dann aus Birkenreisig auch selbst machen.“ Sie beschreibt am Beispiel des Weiden-Projekts, was die Konzeption ihres Kindergartens ganz praktisch bedeutet. Lernen finde spielerisch gleichzeitig auf vielen Ebenen statt. Der aus der Bioland-Schäferei Krauthan hervorgegangene Naturkindergarten vernetzt sich mit den Handwerksbetrieben und Bauernhöfen vor Ort und will damit dafür sorgen, dass die Kinder ihre ländliche Heimat wertschätzen.
Der Kindergarten
Der „Lämmerschlupp“ wurde vor gut einem Jahr eröffnet. Trotz Corona-Krise ist die Zahl der betreuten und angemeldeten Kinder stetig gewachsen, sodass Nicole Krauthan bald eine Warteliste anlegen muss. „Es sind noch wenige Plätze frei, gerne auch für ältere Kinder“, sagt sie. Die derzeit betreuten elf Kinder sind zwischen zwei- und vier Jahre alt. Grundsätzlich werden Kinder bis zum Schuleintritt betreut. Die Kernöffnungszeit von 8 bis 14 Uhr kann um eine Stunde bis 15 Uhr ausgedehnt werden.
Das Betreuungsangebot richtet sich an Familien aus Birstein, Freiensteinau, Grebenhain, Gedern, Hirzenhain, Brachttal, Ortenberg, Kefenrod und Bad Soden-Salmünster. Die Kindergarten-Konzeption verbindet Elemente der Bauernhof-, Natur- und Wildnispädagogik mit dem Gesundheitskonzept des Wasserdoktors Sebastian Kneipp. Im Team der erfahrenen Pädagogin Nicole Krauthan arbeiten neben Bioland-Schäfer Christian Krauthan eine Natur- und Wildnispädagogin, eine Sprach-, Stimm- und Sprechtherapeutin sowie eine Fachfrau für tiergestützte Pädagogik mit. Weitere Bewerber:innen sind willkommen.
Corona-bedingt konnten zuletzt keine Familienführungen stattfinden. Jederzeit können sich aber Familien unter 0162-3188056 melden, um einen eigenen Termin zum Kennenlernen zu verabreden. Die Konzeption lässt sich nachlesen unter https://schaeferei-krauthan.de/index.php/naturkindergarten.html. Dort finden sich auch die Kontaktdaten für Anmeldungen, Bewerbungen von Fachkräften und für Förderer. Interessierte können dem Lämmerschlupp auch auf Instagram oder Facebook folgen. (pm) +++