Nach NSU 2.0 und weiteren Fehlverhalten: Kommission stellt Bericht vor
Montag, 12.07.2021
- WIESBADEN - Die unabhängige Experten-Kommission „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft – Die gute Arbeit der Polizeibeamten stärken, Fehlverhalten frühzeitig erkennen und ahnden“ hat jetzt in Wiesbaden ihren Abschlussbericht vorgestellt. Innenminister Peter Beuth hatte die Vertreter aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Polizei und Verfassungsschutz angesichts unerlaubter polizeilicher Datenabfragen im zeitlichen Zusammenhang mit NSU-2.0-Drohschreiben sowie weiterer Fälle offenkundigen Fehlverhaltens von hessischen Polizisten beauftragt.
Ziel der Kommissionsarbeit war es, bereits angestoßene Maßnahmen des Landes zur Stärkung der Resilienz der hessischen Polizei unabhängig zu bewerten sowie auf Basis ihrer eigenen Untersuchungen und Analysen darüberhinausgehende Handlungsempfehlungen für die Zukunft zu formulieren. Hierfür wurden in den vergangenen zehn Monaten unter anderem mehr als 70 Frauen und Männer zum Beispiel aus der Polizei, der Zivilgesellschaft, Rechtsextremismusexperten, Minderheitengruppen sowie des Journalismus befragt.
Selbstkritische Fehlerkultur
Der Hessische Innenminister Peter Beuth dankte der Vorsitzenden der
Experten-Kommission Prof. Dr. Angelika Nußberger und dem
stellvertretenden Vorsitzenden Jerzy Montag für die geleistete Arbeit
und erklärte: „Die Empfehlungen der Kommission unterstreichen, dass eine
selbstkritische und zeitgemäße Fehlerkultur unerlässlich ist, um das
Vertrauen in die hessische Polizei zu schützen. Ich bin den Expertinnen
und Experten für den kritischen Blick von außen sehr dankbar. Sie werden
als wertvolle Richtschnur für den bereits eingeleiteten Prozess hin zu
einer Kultur des Hinsehens dienen. Erste konkrete Maßnahmen zur
Umsetzung der Empfehlungen wurden bereits unmittelbar eingeleitet.“
Mit
Blick auf die Empfelungen sagte die Vorsitzende der Experten-Kommission
Prof. Dr. Angelika Nußberger: „Für die Polizei in Hessen ist ein
kritischer Moment erreicht: Aufgrund einer Vielzahl von für Aufsehen und
Empörung sorgenden Vorfällen, die zu deutlichen Vertrauensverlusten in
der Bevölkerung geführt haben, ist es jetzt nicht nur nötig, Reformen
anzupacken, sondern dies so schnell und so nachhaltig zu tun, dass der
Neuanfang für alle unmittelbar sichtbar wird. Hessen muss ein Exempel
statuieren und zeigen, dass es den Ehrgeiz hat, im Kampf gegen
Rechtsextremismus deutschlandweit eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Diesem Ziel soll der Bericht der Expertenkommission dienen.“
Der
stellvertretende Vorsitzende der Experten-Kommission Jerzy Montag
erklärte: „Der weiter anwachsende Rechtsextremismus in den
Sicherheitsorganen – Polizei, Spezialeinsatzkommandos, Bundeswehr und
auch in den Berufsfeuerwehren – ist die größte Bedrohung der Sicherheit
und der Demokratie. Noch sind es Einzelne und organisierte Minderheiten,
aber es gilt den Anfängen zu wehren. Der Bund und die Länder sind
gegenüber dieser Herausforderung immer noch nicht hinreichend
abwehrbereit. Die Expertenkommission macht konkrete Vorschläge zur
Stärkung der Resilienz gegenüber Rechtsextremisten in den Reihen der
Polizei. Sie reichen von der Aus- und Fortbildung bis zur Schärfung des
Disziplinarrechts. Es wird darauf ankommen, dass der Landtag und die
Landesregierung diese Vorschläge zeitnah aufgreifen und umsetzen.“
Erste Empfehlungen werden bereits aktuell umgesetzt
Innenminister
Peter Beuth erklärte, dass bereits erste Empfehlungen unmittelbar
umgesetzt würden. „Wir haben bereits eine Stabsstelle zur Umsetzung der
Empfehlungen der Experten-Kommission eingerichtet, die direkt an
Staatssekretär Dr. Stefan Heck berichten wird. Mit Unterstützung einer
neutralen Unternehmensberatung wird jetzt ein Leitbild-Prozess
vorbereitet, der sich an alle 20.000 Polizeibeschäftigten in unserem
Land richten soll. Alle Kolleginnen und Kollegen werden dann aufgerufen,
sich zu beteiligen. Das neue Leitbild soll und muss sich die hessische
Polizei selbst geben. Wir werden gemeinsam sicherstellen, dass der Weg
dorthin offen, transparent und im Geiste einer selbstbewussten aber auch
selbstkritischen Organisation gestaltet wird“, so der Innenminister.
Einige Empfehlungen wie etwa die Einführung einer Disziplinarstatistik
könnten und würden sehr rasch umgesetzt werden. Andere benötigten eine
eingehendere Prüfung.
Um die Widerstandsfähigkeit gegen
rechtsextremes Gedankengut weiter zu stärken, werde an der künftigen
Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit eine
dauerhafte Forschungsstelle „Extremismusresilienz“ etabliert. „Im
stetigen Austausch mit wissenschaftlichen Extremismusexpertinnen und
-experten in der Bundesrepublik wird hier fortan sichergestellt, dass
insbesondere innerhalb der Sicherheitsbehörden nachhaltige Aus-, Fort-
und Weiterbildungsangebote in Hessen bestehen. Auch künftige Befragungen
der hessischen Polizei sollen von hier aus im Dialog mit der
universitären Forschung organisiert werden“, betonte Peter Beuth.
Darüberhinaus
wird der Innenminister im Einklang mit den Empfehlungen der Kommission
der Regierungskoalition eine Änderung Hessischer Sicherheitsgesetze
zeitnah vorschlagen: Künftige Polizeianwärterinnen und -anwärter sollen
demnach regelhaft vom Landesamt für Verfassungsschutz vor der
Einstellung überprüft werden. „Wir müssen mit allen notwendigen Mitteln
verhindern, dass bereits bekannte Extremisten in die Reihen der Polizei
gelangen könnten. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir das nicht
nur im Einzelfall, sondern flächendeckend und regelmäßig bei allen
angehenden Polizeibeamten überprüfen. Dazu gehört auch, dass die Social
Media-Aktivitäten – im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten – künftig
noch umfassender analysiert werden sollten“, sagte der Innenminister.
Die Experten-Kommission fordert: „Nicht weiter so!“
Aufgabe
der Kommission „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen
Gesellschaft“ war es, nach unberechtigten Datenabfragen aus hessischen
Polizeicomputern, Drohschreiben mit dem Kürzel „NSU 2.0“, die damit im
Zusammenhang zu stehen schienen, und Chats von Polizeibediensteten mit
rechtsextremistischen, rassistischen, antisemitischen und
menschenverachtenden Inhalten, mögliche strukturelle Probleme in der
hessischen Polizei zu untersuchen. Dabei galt es zu prüfen, ob die nach
den Vorfällen eingeleiteten – oftmals noch in der Planungsphase oder der
Frühphase der Umsetzung befindlichen – Reformmaßnahmen in die richtige
Richtung gingen, und darüberhinausgehende Verbesserungsvorschläge zu
machen.
Die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Kommission
bauen auf der Sichtung und Auswertung von rechtlichen Regelungen und
polizeiinternen Dokumenten sowie auf der Anhörung von mehr als 70
Personen auf. Angehört wurden die von unberechtigten Datenabfragen und
zugleich von den Drohschreiben Betroffenen, zwei der in die Chats
involvierten Polizeibediensteten, Angehörige aus gesellschaftlichen
Minderheitengruppen, die den Schutz der Polizei in besonderer Weise
benötigen, Rechtsextremismusexpertinnen und -experten, Journalistinnen
und Journalisten sowie auch Polizeianwärterinnen und -anwärter,
Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger sowie
Polizeibedienstete.
Aus der Sicht der Kommission muss auf die
Aufdeckung der die Grundwerte der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung negierenden Chats eine konsequente und eindeutige Antwort
erfolgen. Diese muss ein klares „Nicht weiter so!“ markieren. Reformen
wurden in verschiedenen Schüben seit 2018 angestoßen. Dennoch besteht
noch erheblicher Reformbedarf. Er betrifft Teilbereiche der Organisation
wie den Datenschutz, die Kommunikation mit der Presse oder den Umgang
mit Betroffenen, aber auch die Polizei als Ganzes, wenn es etwa um den
Aufbau einer Fehlerkultur oder die Entwicklung eines nachhaltigen
Fortbildungskonzepts zur Vorbereitung auf Führungsämter geht.
Insgesamt sind aus der Sicht der Kommission in manchen Bereichen einfach und schnell Verbesserungen der gegenwärtigen Situation möglich; in anderen Bereichen sind grundlegende Neuansätze erforderlich. Diese müssen aber in Angriff genommen werden, damit die hessische Polizei den Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft gerecht werden kann. (pm) +++
