Zwei Femizide in kurzer Zeit im MKK?
Sonntag, 18.07.2021
von MORITZ PAPPERT
MAIN-KINZIG-KREIS - Zwei tragische Todesfälle beschäftigen die Ermittler derzeit im Main-Kinzig-Kreis. Zuerst wurde vor wenigen Tagen eine Frauenleiche in einem Haus in Schlüchtern aufgefunden. Der Ehemann wurde kurz vorher von einem Zug überfahren. Eine Woche später dann die nächste schreckliche Meldung: ein Mann soll seine Ehefrau in einem Cafe in Steinau getötet haben. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte des Main-Kinzig-Kreises, Grit Ciani erklärt, wie man einen Femizid definiert.
Wie kann man konkret einen Femizid definieren? Welche typischen Merkmale treffen zu?
"All diese Tötungen jedenfalls passieren im Kontext geschlechtsbezogener Gewalt. Kritische Phasen sind für Frauen erfahrungsgemäß Trennungen, Scheidungen, Schwangerschaften oder wenn sich Frauen aus unterdrückenden Beziehungen ein Stück weit emanzipieren, z.B. gegen den Willen des Partners oder der Familie beruflich Anerkennung finden, mehr Freiräume für sich in Anspruch nehmen, sich wehren. All das sind in der Wahrnehmung der Täter angeblich Verstöße gegen bestimmte Rollenbilder, Traditionen, gesellschaftliche oder religiöse Normen. Typisch ist, dass sich die Gewaltspirale hochschraubt, schon etliche Übergriffe, aggressives Verhalten oder (verbale) Erniedrigung vorausgegangen sind."
Wie muss gehandelt werden, damit so etwas verhindert werden kann?
Die Sensibilisierung dafür, dass Gewalt in allen Formen nicht tolerierbar ist, fängt bereits im Kindes- und Jugendalter an. Unterdrückung, unerwünschte sexuelle Handlungen, auch in einer Ehe oder Beziehung, Stalking, Belästigung, Cyber-Mobbing, Erpressung, psychische und physische Gewalt sind nicht hinnehmbar. Auch das Umfeld solcher Betroffenen ist hier in der Pflicht, bagatellisierende Sprüche oder Ratschläge schaden eher als dass sie helfen. Frauen, die sich aus einer gewaltbehafteten Beziehung lösen wollen, gelingt das nicht immer sofort. Das hat mit Ängsten, finanziellen Abhängigkeiten und Scham zu tun. Hier darf niemand wegschauen. Diese Frauen brauchen viel Unterstützung, um den entscheidenden Schritt einer Trennung zu gehen, Perspektiven für ihr weiteres Leben zu sehen. Ohne Menschen an ihrer Seite, die diesen Weg couragiert mitgehen, undenkbar.
Das Thema geschlechtsspezifischer Gewalt muss unbedingt mehr in der Gesellschaft diskutiert werden. Vor allem aber sollen Betroffene wissen, wo sie Schutz und Beratung finden. Das sind z.B. im Main-Kinzig-Kreis die Beratungsstellen und Frauenhäuser, im Notfall immer die Polizei. Wir haben vor Ort gut funktionierende Netzwerke, die immer wieder Aufklärung betreiben. Übrigens gibt es auch Beratungsangebote für Täter, die freiwillig aufgesucht werden können. Dorthin finden leider noch viel zu wenige Männer. Das Bewusstsein, dass da etwas im Argen liegt, ist meist nicht vorhanden. "
Weitere Info: Das bundesweite Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen” berät rund um die Uhr zu allen Formen von Gewalt gegen Frauen. Es ist wichtig, dass die Betroffenen jederzeit jemanden erreichen können und Hilfe erhalten. Zum Beispiel dann, wenn der Täter gerade nicht zu Hause ist, und sie ungestört telefonieren können. Unter 08000 116 016 und per Online-Beratung auf www.hilfetelefon.de berät das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ – rund um die Uhr, anonym und kostenfrei. Dort werden Hilfesuchenden die Anlaufstellen vor Ort genau genannt.
"Frauen erleben Gewalt, weil sie Frauen sind"
Im Jahr 2019 wurden laut dem Bundesverband Frauen gegen Gewalt 117 Frauen von ihrem aktuellen oder früheren Partner getötet. Im Jahr 2018 waren es 122.
"Frauen erleben Gewalt, weil sie Frauen sind und sie werden getötet, weil sie Frauen sind. Deswegen werden solche Tötungen auch Femizide genannt. Jede Woche werden in Deutschland etwa drei Frauen von ihrem aktuellen oder früheren Partner getötet, das bedeutet jeden zweiten bis dritten Tag. Hinzu kommen viele Tötungsversuche, die für die betroffenen Frauen auch gravierende Folgen haben können. Nicht selten hinterlassen die getöteten Frauen Kinder.
Die Täter sind sehr häufig der Partner oder Expartner. Oft kommt es vor dem Tötungsdelikt schon zu häuslicher Gewalt oder Stalking und oft leben die betroffenen Frauen in einer Beziehung, die geprägt ist von Kontrolle, starker Eifersucht, psychischer Gewalt oder einer starken Isolierung. Häufig sind die Täter auch bereits polizeilich bekannt, so auch im Fall in Steinau. Aus Dunkelfeldstudien wissen wir, dass jede vierte Frau in Deutschland Gewalt in Partnerschaften erlebt.
Um schwere Gewalt und Tötungen zu verhindern, braucht es ein gut ausgebautes Unterstützungssystem für gewaltbetroffene Frauen, damit sie zeitnah und schnell Hilfe finden, z.B. in einer Beratungsstelle. Es braucht außerdem verbindliche Kooperationen und eine wirksame Zusammenarbeit von Polizei, Fachberatungsstellen, aber auch z.B. dem Jugendamt oder Täterarbeitsstellen, um frühzeitig zu erkennen, dass Frauen hochgefährdet sind und entsprechend zu intervenieren und für Schutz zu sorgen. Dafür sind Fortbildungen aller Fachkräfte zentral, damit diese Dynamiken von Gewalt in Partnerschaften erkennen können", so Katharina Göpner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe - Frauen gegen Gewalt e.V.
Ähnlich sieht es auch Simone Thomas, Frauenbeauftragte der Stelle zur Gleichberechtigung der Frau: "Beziehungstat oder Femizid? Wer die Ermordung von Frauen als Beziehungstat, Familientragödie, Eifersuchtsdrama oder Ehrenmord bezeichnet, verharmlost die Morde und trägt dazu bei, den Grund für die Ermordung der Beziehung, der Familie oder der Herkunft zuzuschreiben und damit quasi zu entschuldigen. Unser Strafrechtssystem unterscheidet zwischen Mord und Totschlag. Morde an Frauen werden häufig als Totschlag eingestuft, also einer Tat aus niederen Beweggründen. Der Mord an Frauen muss als das bezeichnet werden, was er ist: Femizid. Femizid bezeichnet die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Und genau das ist auch in Deutschland der Fall", so Simone Thomas.
Hier gibt es Hilfe:
Hilfe und Unterstützung für Betroffene von Gewalt, aber auch Fachkräfte und Unterstützungspersonen ist HIER zu finden.
