Sonderedition Buchmesse (Teil 2): Lieblingsbücher – die ans Herz wachsen

Donnerstag, 21.10.2021
von JUTTA HAMBERGER
FRANKFURT AM MAIN/MKK - Das Schöne am Lesen ist ja, dass man gar keine Literaturpreise braucht. Man kann einfach selbst auf Entdeckungsreise gehen. Das tue ich für Sie ohnehin alle zwei Wochen, für die Buchmessen-Woche habe ich mir kompetente Verstärkung geholt.
Wir – das sind die Buchhändlerin Agnes Bötticher, Buchhandlung am Markt in Marburg und Buchhändler Manfred Borg, aus dem Ulenspiegel in Fulda. Gaby Goldberg-Brünnel, Büroleiterin des Jerusalemer Goethe-Instituts. Dr. Siv Bublitz, die verlegerische Geschäftsleitung der S. Fischer Verlage. Marie-Louise Puls, Fuldaer Stadtverordnete, Ergotherapeutin, leidenschaftliche Leserin. Katrin Burr, Buchhändlerin, Markenmanagerin und bei dreisprung verantwortlich für Programm- und Markenstrategie. Die Bücher, über die Sie nun lesen werden, sind uns ans Herz gewachsen. Sie haben uns berührt und nachdenklich gemacht.
Von mir ein großes DANKE an meine wunderbaren Mitstreiterinnen (hier und im ganzen Text sind übrigens Männer in den weiblichen Formen immer mitgedacht) – sie alle haben sich sofort und im wahrsten Sinn des Wortes hineingestürzt ins Lesen und Aussuchen. Alle haben sich ihre Bücher selbst ausgesucht, es gab keinerlei Vorgaben.
Virginia Woolf "Vom Verachtetwerden oder drei Guineen" (Kampa)
Von Virginia Woolf kann man gar nicht genug lesen. Wie wunderbar, dass der Kampa Verlag diesen Essay aus dem Jahr 1939 wieder herausgebracht hat. Er ist nicht so bekannt wie "Ein Zimmer für sich allein" (1929), aber genauso lesenswert. Übersetzt wurde er von Antje Rávik Strubel, die in diesem Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht und über den Essay sagt: "Virginia Woolfs Essay ist ein scharfes Fernrohr. Aus 90 Jahren Entfernung holt sie die Gegenwart nah heran." Und ja, das ist DIE Antje Rávik Strubel, die gerade den Dt. Buchpreis erhalten hat.
Siv Bublitz: "Wie kann Ihrer Meinung nach Krieg verhindert werden?" lautet die Frage, die Virginia Woolf in den Mittelpunkt dieses Essays stellt. Ihre Antwort beginnt mit einer vernichtenden Kritik des Patriarchats, dessen Werte – Dominanz, Materialismus, Nationalismus – Kriege als heroisches Mittel zum Zweck geradezu nahelegen. Woolf macht deutlich: Wer Krieg verhindern will, muss das patriarchalische Weltbild verändern. Dieses revolutionäre Potential sieht sie vor allem bei den Frauen: Ihre Rolle zu stärken ist die Voraussetzung für eine friedlichere und humanere Gesellschaft.
Man kann "Drei Guineen" feministisch lesen, aber auch als mitreißendes Plädoyer für Vielfalt: Eine Gesellschaft entwickelt sich in dem Maße, in dem sie unterschiedliche Perspektiven stärkt. Wie zeitgemäß Woolfs Gedanken sind, macht Antje Rávik Strubels Übersetzung ebenso augenfällig wie ihr kluges Nachwort.
Stefanie vor Schulte "Junge mit schwarzem Hahn" (Diogenes)
Das muss man sich bei einem Debütroman erst mal trauen – Stefanie vor Schulte hat ein modernes Schauermärchen geschrieben, das aber auch eine Parabel auf die Gegenwart ist. Kompromisslos steht ein Kind im Fokus, und dieser Martin ist einer vom Stamme Greta Thunbergs. Genauso kompromisslos, genauso erschüttert über etwas, das er anprangert und das er verändern will. Seine Schöpferin sagt, es mache sie fassungslos, dass Kinder keine Lobby hätten, und wieviel Stärke und Hingabe sie haben müssten, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen. Deshalb will dieses Buch auch Raum schaffen für das, was Kinder so besonders und einmalig macht – ihre Verletzlichkeit, ihre Reinheit, ihre Unschuld und ihre Leidenschaft.
Agnes Bötticher: Auch nach vielen Jahren im Buchhandel und einer ständigen Fülle interessanter Neuerscheinungen gibt es doch immer wieder diese herausragenden Bücher, die einen aufhorchen lassen. Das ist so ein Buch, es ist ein wirklich ganz besonderer Roman. Mit Martin ist der Autorin eine Figur gelungen, die ähnlich unvergesslich ist wie Andres Egger in Robert Seethalers "Ein ganzes Leben". Ein Junge, der mutig und reinen Herzens ist. Der menschlich bleibt in unmenschlichen Zeiten.
Aus der großen Bilderkiste, in denen sich in vielen Lektürejahren viele großartige Romanfiguren angesammelt haben, steigen die Assoziationen empor, z.B. an Süskinds "Parfum", Robert Schneiders "Schlafes Bruder", Kehlmanns "Tyll", Preusslers "Krabat" und die Märchenfiguren der Brüder Grimm. Aber das hier ist eine ganz neue und ganz eigene Geschichte. Vor allem auch durch die besondere Sprache, diesen unvergesslichen Ton, passend zu längst vergangenen Zeiten und doch zugleich sehr modern. Und was für ein Finale! Da kann man nur aus dem Buch zitieren: "Wer da nicht mitweint, ist selbst schon tot."
Eva Menasse "Dunkelblum" (KiWi)
Dunkelblum ist eine Chiffre für den Ort Rechnitz unweit der ungarischen Grenze. Hier stand das im Besitz der Gräfin Margit Batthyány-Thyssen befindliches Schloss Rechnitz. Am Palmsonntag, dem 25. März 1945, feierten die Gräfin hier mit NSDAP-Bonzen ein Fest. Zur Unterhaltung gehörte das Massaker an ca. 200 jüdischen Zwangsarbeitern. Das Verbrechen wurde nie umfassend aufgeklärt, das Massengrab nie gefunden. Die beiden Hauptverantwortlichen flohen ins Ausland – tatkräftig unterstützt von der Gräfin, die 1989 in der Schweiz starb.
Man kann sich so eine Geschichte gar nicht ausdenken. Eva Menasse sieht "Rechnitz" auch deshalb als paradigmatisch für andere Verbrechen und Massenmorde, über die nicht gesprochen wird und die nie aufgeklärt wurden. Sie zeigt aber auch, wie das Gift der bösen Tat auch Jahrzehnte später noch wirkt.
Gaby Goldberg-Brünnel: Rechnitz heißt im Roman Dunkelblum. Nicht vom Morden erzählt Menasse allerdings, sondern darüber, was das Schweigen über die Tat, von der alle Einheimischen wissen, mit und in Generationen von Dunkelblumer Familien anrichtet. Wie sie darüber erzählt, ist grandios – mir ist (nach dem etwas sperrigen Anfang) immer wieder der Atem weggeblieben, vor Entsetzen oder vor Lachen. Für mich das Buch des Jahres 2021.
Kathrin Schärer "Da sein. Was fühlst du?" (Hanser)
Schärer gibt in diesem wunderbaren Bilderbuch 30 Emotionen in ausdrucksstarken Tier-Bildern ein Gesicht: Entschlossene Erdmännchen, nervöse Hermeline, erschrockene Ferkel, ein beleidigtes Chamäleon, ein wütender Hase. Von 0 bis 99 können wir hier Emotionen erkennen, diskutieren und verstehen.
Katrin Burr: Ein Bilderbuch im besten Sinn, fast ohne Text. Reduziert auf das, was ich brauche, um ins Mitfühlen und Erzählen zu kommen. Es funktioniert schon mit den Kleinsten, die mehr mit Lauten als mit Worten erzählen. Es funktioniert mit Plappermäulchen genauso wie mit Schweigsamen – und sogar dann, wenn man mit sich alleine ist und gerade nicht weiß, wohin mit all seinen Emotionen.
Robert Galbraith "Böses Blut" (Blanvalet)
Manche Autorin, die (auch) unter Pseudonym schreibt, hat daraus eine richtige Kunst entwickelt und ihr Pseudonym genau wie den Originalnamen zu einer Marke ausgestaltet. So wie hier, denn hinter Robert Galbraith verbirgt sich J.K. "Harry Potter" Rowling. Unter dem Namen Galbraith begann sie Krimis zu schreiben, die zunächst mäßig erfolgreich waren, aber gut besprochen wurden. Sehr früh wurde der Verdacht laut, hinter Galbraith stecke eine erfolgreiche Autorin. Die Fährte zu J.K. Rowling war recht schnell gelegt.
Die sagte über ihr Pseudonym: "Robert Galbraith zu sein, war für mich eine sehr befreiende Erfahrung." Es sei wundervoll gewesen, ohne Hype und ohne große Erwartungen ein Buch zu schreiben. Kann man irgendwie verstehen. Als Galbraith entwickelte sie die Cormoran-Strike-Serie, klassisches Whodunnit. Aber eben mit Rowling-Dreh. Cormoran Strike ist Ex-Soldat, wurde in Afghanistan verletzt, hat Schulden und – zu Beginn der Serie – kaum Klienten. Er gehört auch nicht gerade zu den Schnelldenkern. Das ist Sache seiner hochtalentierten Assistentin, die schnell zur ebenbürtigen Partnerin bei den Ermittlungen wird.
"Böses Blut" ist der 5. Band der Reihe. Sie können die Cormoran-Strike-Bände problemlos unabhängig voneinander lesen, mehr Spaß haben Sie aber sicher, wenn Sie mit Bd. 1 "Der Ruf des Kuckucks" beginnen und die Entwicklung der Charaktere verfolgen.
Marie-Louise Puls: Wer sich häufiger dabei erwischt, an einem Sonntagabend-Krimi zu kritisieren, dass die Beziehung zwischen den Ermittlern zu viel Platz einnimmt, der lässt lieber die Finger von diesem Buch. Alle anderen – lesen! Neben einem neuen Fall, der unlösbar scheint, versteht Galbraith es nämlich auch, zwischen dem Ermittler-Duo Ellacott/Strike neue, feine Fäden zu spinnen. Wer nicht so viel Lust hat auf "am Ende wird alles gut", den kann ich beruhigen: Die Beziehung bleibt kompliziert. Dafür nimmt der Fall einige spannende Wendungen und bleibt über die gesamte Länge des 1200 Seiten starken Buchs aufregend bis nervenkitzelnd.
Anna Nerkagi "Weiße Rentierflechte" (Faber und Faber)
Heirate, gründe einen Hausstand, zeuge Kinder, züchte und hüte Rentiere – verkaufe sie. Das ist die Lebensmaxime der Nenzen seit Jahrhunderten. Sie leben in einer der unwirtlichsten Regionen der Welt, monatelang liegt hier alles unter Schnee und es ist kalt, richtig kalt. Aljoschka, der Held dieser Liebesgeschichte, will aber nicht, was alle wollen und tun. Er will ein individuelles Liebesschicksal. Und das clasht mit den Vorstellungen der Nenzen-Gemeinschaft.
Anna Nerkagi wurde auf der Halbinsel Yamal in Westsibirien geboren. Als kleines Mädchen wurde sie mit sechs Jahren von ihren Eltern getrennt und in ein Internat gebracht. Ihre Eltern durfte sie nur in den Ferien sehen. Heute leitet sie die Tundra-Schule für Nenzen und bildet dort die Kinder aus.
Manfred Borg: Inuit, dass so die Bewohner der nördlichen Breiten heißen, weiß man, doch wer sind die Nenzen? Anna Nerkagi, die erste nenzische Schriftstellerin, die auf deutsch veröffentlicht wurde, erzählt in ihrem Roman von den Lebensbedingungen ihres Volkes in Nordwestsibirien und bringt uns die alten Riten der Nenzen nahe. Sie schildert den Versuch der Hauptfigur, aus dem jahrhundertealten vorgegebenen Rahmen auszubrechen und das individuelle Glück zu suchen. Die stimmungsvollen schwarz-weiß-Fotos stammen von Sebastiao Salgado, der als Fotograf und Umweltaktivist festhält, was wir zu zerstören drohen.