Keine Überraschung: Die Corona-Lage ist dramatisch

Montag, 08.11.2021
von THOMAS P MENZEL
REGION - Nein, die aktuelle Entwicklung der Pandemie kommt nicht überraschend, auch wenn wir uns noch so sehr einen anderen Verlauf gewünscht haben. Darauf, dass uns ein harter Herbst und Winter bevorsteht, wenn es uns nicht gelänge, die Impfquote auf weit über 80 Prozent zu steigern, haben seriöse Wissenschaftler bereits im Sommer hingewiesen. Recht zu behalten, ist nicht immer schön.
"Die Lage ist dramatisch", sagte am vergangenen Freitag der sächsische Ministerpräsident Kretschmer im Deutschlandfunk. Sachsen hat die niedrigsten Impfquoten und die höchsten Inzidenzen in Deutschland. Ab Montag soll dort flächendeckend die 2-G-Regel gelten. Auch anderswo schnellen die Infektionszahlen nach oben und - mit dem mittlerweile gut bekannten Verzögerungseffekt - füllen sich auch die Krankenhäuser wieder mit COVID-Patienten. 2.449 lagen Stand Samstag, 06.11.2021, auf den Intensivstationen in ganz Deutschland. Vor einem Jahr waren es mit 2.647 nur wenige mehr. Als Reserve für COVID-Patienten auf den deutschen Intensivstationen stehen derzeit mit knapp 1.000 Betten aber weniger zur Verfügung als damals. Die ersten Corona-Wellen haben dem ohnehin knappen Fachpersonal hart zugesetzt. Jetzt fehlt es mehr denn je, auch um jene Corona-Patienten zu behandeln, die es nicht geben müsste, wenn sie sich hätten impfen lassen.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow stimmt seine Bürgerinnen und Bürger schon darauf ein, dass in seinem Land die Betten nicht reichen werden, um alle Thüringer in Thüringen zu behandeln. Auch bei uns in Hessen spitzt sich die Lage weiter zu, auch wenn die Krankenhäuser derzeit noch Reserven haben. Unterdessen entwickelt sich die Delta-Variante munter weiter, die Impfung hilft auch gegen diese, wenn auch die Schutzwirkung bei den neuesten Subvarianten etwas schwächer ist.
Die Mehrheit der Deutschen spricht sich laut einer Umfrage für eine Impfpflicht aus, und der Ruf nach der Durchsetzung der 2-G-Regel wird immer dringlicher erhoben.
Wie wäre die Lage ohne Impfung?
Natürlich, alles hätte noch schlimmer kommen können. Stellen wir uns ein alternatives Szenario vor: Die Corona-Pandemie ist mittlerweile in ihrem 20. Monat. Aber ein Impfstoff ist bis heute nicht verfügbar, wirksame Therapien sind noch immer nicht gefunden. Viele der Älteren haben sich trotz der umfassenden Isolierung infiziert, mehr als 1,5 Millionen Menschen - ein Drittel der über 80-jährigen - sind mittlerweile verstorben, weil es keinen Impfschutz gibt. In der Altersgruppe der 60 bis 80-jährigen, zu der in Deutschland 15 Millionen Menschen zählen, ist die Sterblichkeit durch Corona etwas geringer als unter den Hochbetagten, auch wenn viele schwere Verläufe mit tödlichem Ausgang zu verzeichnen sind. Das Ziel der Bundesregierung, die Zeit bis zur Entwicklung eines Impfstoffs durch wiederkehrende Lockdowns zu überbrücken, ist nicht aufgegangen.
Nun soll durch die langsame
und kontrollierte Durchseuchung der Jüngeren eine ausreichende Immunität
in der Bevölkerung erreicht werden, um die Älteren und die Menschen mit
Risikofaktoren endlich wieder aus dem Lockdown zu bringen. Das erweist
sich als schwieriger als gedacht, weil es auch unter den unter
50-jährigen immer häufiger zu Todesfällen kommt. Die Menschen haben
Angst, die Wirtschaft liegt am Boden, es kommt zu Versorgungsengpässen,
die Krankenhäuser sind übervoll, die Behandlung von COVID-Patienten
konkurriert mit der Behandlung der Patienten, die wegen anderer
Erkrankungen ins Krankenhaus kommen. Viele der um Luft ringenden
Corona-Kranken und deren Angehörige versuchen mit letzter Kraft an
Sauerstoff zu gelangen oder einen Platz am rettenden Beatmungsgerät zu
ergattern.
Kein Horrorszenario: In Ländern, in denen es an
Impfstoffen mangelt oder die Impfbereitschaft gering ist, ist das in den
Krankenhäusern Alltag. Und so oder so ähnlich könnte es heute bei uns
in Deutschland aussehen, wenn wir keine Impfstoffe gegen COVID-19 zur
Verfügung hätten.
Impfen und Auffrischen
Doch wir haben die Impfstoffe. Wir können und wir sollten dankbar dafür
sein. Die Impfstoffe wirken hervorragend. Das Robert Koch-Institut (RKI)
berichtet von 145.185 wahrscheinlichen Impfdurchbrüchen bei insgesamt
mehr als 55 Millionen vollständig geimpften Personen in Deutschland. Das
sind etwa 0,3 Prozent und auch wenn es sicher eine Dunkelziffer gibt,
ist das eine sehr niedrige Anzahl. Am relativ häufigsten sind die
Durchbrüche bei Personen, die den Johnson & Johnson Impfstoff
erhalten haben, und die deshalb möglichst bald eine
Auffrischungs-Impfung erhalten sollten.
Auch für alle, deren vollständige Impfung mehr als sechs Monate zurück
liegt, wird seit vergangener Woche eine Auffrischungsimpfung empfohlen.
Die Empfehlung ist kein Hinweis auf die Schwäche eines Impfstoffs.
Solche Auffrischungsimpfungen sind auch bei anderen
Infektionserkrankungen gang und gebe. Die Wirkung der Impfung hat
sozusagen ein Mindesthaltbarkeitsdatum. Bei den meisten Menschen nimmt
der Schutz vor einer COVID-Infektion nach sechs Monaten ab. Das gilt
übrigens auch für die Genesenen, die die Erkrankung durchgemacht haben.
Deshalb wird der so genannte Genesenen-Status nur für sechs Monate
bestätigt. Für diese Menschen ist ebenfalls eine "Auffrischungsimpfung"
zu empfehlen.
Stand heute haben bisher etwa 2,2 Millionen Menschen einen COVID-Booster
erhalten. In Deutschland leben 15 Millionen über 70-Jährige, die jetzt
zügig ihre Auffrischungsimpfung erhalten sollten. Die niedergelassenen
Ärztinnen und Ärzte und auch wir im Klinikum Fulda stehen dafür bereit.
Die Folgen der eher zögerlich angelaufenen Auffrischungsimpfungen sind
schon jetzt zu spüren. Auch auf den Intensivstationen sind mittlerweile
25 Prozent Geimpfte in Behandlung, die meisten von ihnen sind über 60
Jahre alt. Die anderen 75 Prozent sind nicht geimpft und häufig deutlich
jünger.
230 Jahre Impfungen: eine echte Erfolgsgeschichte
Die Segnungen der Impfung sind offensichtlich. Aber warum bloß ist das
Thema Impfen so kontrovers geworden, dass es die Gesellschaft spaltet?
Etwa Zweidrittel der Bevölkerung sind vollständig geimpft oder genesen,
und es werden jeden Tag mehr. Anfang Juni wurden in einer Woche über 6
Millionen Impfungen verabreicht, Mitte Oktober waren es nur noch knapp
890.000. Seit Ende Oktober steigen die Impfzahlen wieder auf zuletzt
über eine Million wöchentlich. Dennoch sind in Deutschland immer noch zu
viele Menschen nicht geschützt.
Für Zweidrittel der Menschen, die sich bisher nicht gegen COVID-19 haben
impfen lassen, ist laut aktueller Umfragen die Angst der Hauptgrund für
die Zurückhaltung. Diese Angst vor der Spritze und dem, was da in den
eigenen Körper gelangt, ist nicht neu. Vor allem aber liegt die Ursache
für die Angst nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie
betrachtet.
Der britische Landarzt Edward Jenner lebte im 18. Jahrhundert und wusste
nichts von Bakterien oder Viren. Die wurden erst später entdeckt.
Nachdem er aber beobachtet hatte, dass Melkerinnen, die an den Kuhpocken
erkrankten, sich nicht mehr mit den gefährlichen echten Pocken
infizierten, führte er 1796 die erste Impfung durch, mit Kuhpockenviren
(Vacciniaviren), die er aus einer Pockenpustel einer erkrankten Melkerin
entnommen hatte. Damit begann die Geschichte der Impfungen - und auch
die der Impfgegner. Bereits damals fürchteten diese, dass Kinder, die
den Kuhpockenimpfstoff erhielten, kuhähnliche Züge entwickeln würden. Es
hieß sogar, die Impfung ließe Hörner wachsen. Solche Befürchtungen
waren offensichtlich durch nichts zu beweisen. Die Wirkung der Impfung
aber sehr wohl. Die Pocken hatten ihren Schrecken verloren.
Nach den großen Pockenepidemien 1870 und 1873 in Deutschland mit mehr
als 400.000 Erkrankten und 181.000 Toten führte Reichskanzler Otto von
Bismarck 1874 die Pflicht zur Pockenimpfung ein, die bis in die 1970er
Jahre Bestand hatte. Die ersten Impfgegner-Organisationen gründeten sich
schon zuvor, 1869 in Leipzig und Stuttgart!
Zusammen mit Poliomyelitis (Kinderlähmung), Tetanus (Wundstarrkrampf),
Diphtherie und Masern zählten die Pocken im vorigen Jahrhundert zu den
fünf gefährlichsten Krankheiten. Heute sind diese Seuchen bei uns
weitgehend verschwunden.
Weil es dagegen Impfungen gibt.
Neben einer besseren Ernährung und einer deutlich verbesserten Hygiene
sowie der Entwicklung wirksamer Medikamente haben insbesondere die
Impfungen dazu beigetragen, dass in den vergangenen 100 Jahren die
Lebenserwartung der Deutschen von 45 auf mehr als 80 Jahre gestiegen
ist.
Heute gibt es den Impf-Kalender der STIKO, der ständigen Impfkommission
beim Robert-Koch-Institut, - einen Kreis von Fachleuten, der bis vor
kurzem nur Insidern bekannt war. Die STIKO aktualisiert den
Impf-Kalender anhand der neuesten wissenschaftlichen Daten regelmäßig.
Die allermeisten Kinderärzte sorgen dafür, dass die Kinder in
Deutschland die erforderlichen Impfungen erhalten und so vor den so
genannten "Kinderkrankheiten" geschützt sind. An diesen Erkrankungen
sind bis in die Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts hinein viele
Kinder gestorben. Und wer zu einer Fernreise aufbricht, lässt sich von
einem Impfarzt beraten und erhält die notwendigen Impfungen. Ganz
selbstverständlich.
Fake-News untergraben Impfbereitschaft
Was ist also schief gelaufen im Kampf gegen die aktuelle Pandemie? Oder
lief es besonders gut, weil wir doch den Impfstoff haben? Und ist es
hinnehmbar, dass es Menschen gibt, die - aus welchem Grund auch immer -
ein Interesse daran haben, die Impfungen durch Falsch-Information,
Gerüchte und Verschwörungsmythen schlecht zu reden und zu
diskreditieren? Menschen, denen dann eine Minderheit mehr glaubt als den
Fakten der Wissenschaft, die uns in den letzten 200 Jahren alle
Errungenschaften der modernen Medizin beschert hat? Nur gut, dass sich -
erfreulicherweise- die große Mehrheit der Deutschen und ihrer Politiker
an der Wissenschaft orientiert.
Es wäre ein lebensrettender Erfolg, wenn wir die Menschen, die bisher
die Impfung noch meiden, davon überzeugen könnten, dass eine Impfung zum
jetzigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung ist: Vor allem für sie
selbst, aber auch für uns alle.
Eigentlich ist es ja gar nicht so schwierig: Entweder man lässt sich
impfen, oder man infiziert sich mit SARS-CoV-2 und erkrankt an COVID-19.
Die Wahrscheinlichkeit sich zu infizieren, wächst mit jedem Tag. In
Anbetracht der aktuellen Hochinzidenzlage sollten Ungeimpfte, die sich
nicht infizieren wollen, unbedingt darauf verzichten, die eigene Wohnung
zu verlassen. Besuch zu empfangen, wäre auch keine gute Idee.
Die bekannten Risiken der Impfung (und die unbekannten) sind im
Vergleich zu den bekannten (und den unbekannten) Risiken einer
COVID-Erkrankung deutlich – ja mehr als deutlich – niedriger. Bei mehr
als sieben Milliarden (!) verimpften Dosen ist davon auszugehen, dass
es, was die Nebenwirkungen angeht, keine Überraschungen mehr geben wird.
Auch wenn die Zeit für die Entwicklung und Zulassung der
Corona-Impfstoffe vergleichsweise kurz war, lässt die schiere Anzahl der
bereits verabreichten Impfungen für unerkannte Nebenwirkungen einfach
keinen Raum.
Nicht wieder "Prinzip Hoffnung"
Sehr wahrscheinlich aber können wir den Pandemieverlauf im Herbst und
Winter 2021 bei uns aufgrund der zu niedrigen Impf-Quote nicht mehr
wirklich retten. Die Frage, ob es wieder zu Lockdowns (vielleicht auch
nur für Ungeimpfte) kommt, ist noch nicht entschieden. Andere Länder wie
Italien oder Frankreich gehen da mittlerweile sehr viel entschiedener
vor. Wir alle aber in Deutschland werden unsere Kontakte wahrscheinlich
erneut reduzieren müssen, nicht zuletzt auch, um die Krankenhäuser vor
Überlastung zu schützen. Und wen diese Situation an den Herbst des
vergangenen Jahres erinnert, der liegt richtig.
Die aktuelle Entwicklung war absehbar, und je länger die Pandemie
fortschreitet. Umso mehr fragt man sich, was wir aus der Erfahrung der
vergangenen Monate eigentlich gelernt haben. Der viel zu langsame
Impf-Fortschritt ist nur ein Aspekt. Vor ziemlich genau einem Jahr sind
die Inzidenz-Werte schon einmal durch die Decke gegangen, und die
Politik wollte trotzdem irgendwie gerne "zurück zur Normalität". Die
Forderung nach einem Wellenbrecher-Lockdown wurde viel zu spät
ernstgenommen, viele Menschen wurden krank und zehntausende starben.
Auch jetzt setzen viele unter den Verantwortlichen erneut auf Lockerung.
Die Argumente dafür sind teilweise hanebüchen. Keine Masken mehr in den
Schulen, volle Theater und Konzertsäle, Partys wie früher und alles
nach dem 3-G- oder gelegentlich auch mal nach dem 2-G-Prinzip, wie auch
immer das kontrolliert wird. Das kann nicht gut gehen. Das wird am Ende
nur dem Virus gefallen. Es ist einfach nur traurig. Wir haben alle
Werkzeuge auf dem Tisch, aber die Hände in den Taschen. Das "Prinzip
Hoffnung" wird auch diesmal nicht funktionieren.
Alle sind verantwortlich
Was können wir also tun, um die Unzulänglichkeiten der Corona-Politik zu
kompensieren, jede und jeder von uns, individuell und
verantwortungsbewusst? Die Einhaltung der Hygienemaßnahmen, die wir alle
seit zwei Jahren eingeübt haben, bleibt eine Säule der Kontrolle der
Pandemie. Tragen Sie Ihre Maske in Innenräumen, vermeiden Sie große
Menschenansammlungen vor allem in Innenräumen und waschen Sie sich
häufig die Hände. Alles nicht neu. Aber anscheinend vergessen das viele
Menschen derzeit gerne.
Und ja, lassen Sie sich impfen, auch wenn Sie‘s nicht mehr hören können.
Es hilft Ihnen und uns allen. Die, die dies schon getan haben, denken
bitte daran: Sechs Monate nach der vollständigen Impfung brauchen Sie
eine Auffrischung, vor allem wenn sie älter als 60 Jahre sind. Und auch
die Genesenen sollten sich spätestens nach Ablauf von sechs Monaten
impfen lassen. Die Nebenwirkung der Auffrischungsimpfungen sind übrigens
nicht - wie häufig berichtet wird - heftiger als die nach der zweiten
Impfung und sicher besser zu ertragen, als einige Wochen beatmet auf
einer Intensivstation zu liegen. Kommen Sie gesund durch diese Zeit!
ZUR PERSON DR. THOMAS MENZEL
Priv.-Doz. Dr. med. Thomas P. Menzel (59) ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Hämatologie/ internistische Onkologie sowie Zusatzqualifikationen als ärztlicher Qualitätsmanager und Diplom-Gesundheitsökonom. Seit Mai 2011 ist er Sprecher des Vorstands der Klinikum Fulda gAG.