Ein Erfahrungsbericht: "Ich bin nicht krank, ich bin bloß Diabetikerin"

Sonntag, 14.11.2021
MAIN-KINZIG-KREIS - Der 14. November genießt einen hohen Stellenwert bei allen "Zuckersüßen": An diesem Datum wird alljährlich der Weltdiabetestag begangen. Der Termin ist freilich nicht zufällig festgelegt worden: Am 14. November 1891 erblickte Frederick Banting das Licht der Welt, der gemeinsam mit seinem Kollegen Charles Best als Entdecker des Insulins gilt. Eine Typ-1-Diabetikerin hat KINZIG.NEWS ihre ganz persönliche Geschichte erzählt:
Uni gut, Abschluss gut. Ich atme kurz auf. Was folgt, gleicht einem Marathonlauf: Bewerbungsstress – ein Praktikum jagt das nächste. Doch ich habe mein Ziel fest vor Augen, eine Ausbildung zur Redakteurin zu absolvieren. Eigentlich bin ich ein lebenslustiger, offener, aber auch ehrgeiziger Mensch. "Manchmal etwas zu hundertprozentig", bringen es mein Mann und meine Eltern auf den Punkt. Ich plane gerne mein Leben, obwohl ich weiß, dass es nicht immer planbar ist.
Der Schock sitzt tief
Sommer 2008: Die Diagnose "Diabetes mellitus Typ 1" macht meinem
ausgeprägten Planungsdrang einen gehörigen Strich durch die Rechnung.
"Was nun? Wie geht es mit mir weiter?", frage ich mich. Der Schock sitzt
tief. Panik übermannt mich. Ängstlich blicke ich in die Zukunft:
Nichts, aber auch gar nichts, erscheint mir mehr planbar zu sein…
"Du
musst alles auf dich zukommen lassen und lernen, mit der Diagnose
umzugehen", rät mir meine Diabetesberaterin. Was sich mir jetzt
offenbart, ist für mich absolutes Neuland. Begriffe wie Broteinheiten,
HbA1c-Wert, Hypoglykämie und Hyperglykämie geistern durch meinen Kopf.
Den notwendigen Insulininjektionen stelle ich mich tapfer – vor Spritzen
war mir noch nie bange! Das Blutzuckermessgerät wird zu meinem
ständigen Begleiter. Ein kleiner Tropfen Schweiß auf der Stirn? Ich muss
messen! Anfangs entwickele ich eine regelrechte Phobie vor
Unterzuckerungen. Gehe ungerne allein aus dem Haus, halte mich auf
Feierlichkeiten dezent im Hintergrund. Doch irgendwann kehren mein
Optimismus und mein "prägnantes Lachen" zurück. Mir wird bewusst, dass
ich mit Diabetes leben kann – schließlich muss er es ja auch mit mir
aushalten.
Nächtliche Unterzuckerungen nerven
Das
tägliche Spritzen, das Berechnen von Mahlzeiten und der Griff zum
Blutzuckermessgerät erfolgen quasi automatisch. Mittlerweile hat sich
mein großer Lebenstraum erfüllt: Ich bin Redakteurin, stürze mich voller
Elan in die Arbeit, knüpfe neue Kontakte und spiele mit der Sprache.
Horizonte erweitern sich. Einzige Krux: Die nächtlichen
Unterzuckerungen, die mir neuerdings den Schlaf rauben. In mir entflammt
eine regelrechte Abneigung gegen Gummibärchen, Traubenzucker und Co.
Meine Basalinsulinsorten wechseln: aus Protaphane wird Levemir, abgelöst
von Lantus.
Abhilfe verspricht eine Insulinpumpe. Erfolgreich boxen mein Arzt und meine Diabetesberaterin den entsprechenden Antrag bei meiner Krankenkasse durch. Was nun kommt – die Eingewöhnungsphase sei an dieser Stelle außen vor gelassen – ist der Himmel auf Erden. Die "Hypos" zur Geisterstunde verschwinden. Entzückt "spiele" ich mit der temporären Basalrate. Fasziniert wähle ich zwischen normalem, verlängertem und dualem Bolus. Fachsimple mit meiner Diabetesberaterin über die Vorteile von Kathetern mit Teflonkanüle im Vergleich zu denen mit Stahlkanüle. Erliege dem Zauber von Fachkatalogen. Freue mich wie ein Kind darüber, dass ich mir per Knopfdruck "eine Portion" Insulin verabreichen kann und das lästige Spritzen von Langzeitinsulin entfallen ist – der Basalrate sei Dank. Zugegeben, es ist nicht alles Gold, was glänzt: Meine erste Ketoazidose kratzt schon ein wenig an meiner Euphorie…
Und sicherlich ist jeder Mensch ein "Gewohnheitstier": Inzwischen betrachte ich die Pumpe als Standard. Ich habe mich an sie gewöhnt und nutze sie mehrmals täglich, ohne über ihre Existenz nachzudenken. Wobei – vor wenigen Tagen habe ich sie meinem Mann gegenüber doch mal wieder hoch angepriesen: Und zwar, als ich mir mitten im Markttreiben eine Bratwurst mit Brötchen gönnte. Plötzlich war alles so praktisch: Pumpe unter der Kleidung hervorgeholt, programmiert – ab ging das Insulin. Und niemand hat es gemerkt. Spritzen war doch eindeutig komplizierter und auffälliger, oder? (red)