Von einer Autorin aus Ronneburg

Der traurige Weihnachtsbaum - eine Weihnachtsgeschichte

Die Geschichte vom traurigen Weihnachtsbaum - Symbolbild: Pixabay


Freitag, 24.12.2021
von Ingrid Wilke Bury

MAIN-KINZIG-KREIS - Eine Weihnachtsgeschichte von Ingrid Wilke Bury aus Ronneburg. Zur Verfügung gestellt vom TRIGA Verlag aus Gelnhausen. Viel Spaß beim Lesen!

Solange sie denken konnte, war es ihr Privileg gewesen, einige Tage vor Weihnachten einen Baum auszusuchen, der wenige Tage später zu Hause das Weihnachtszimmer schmücken sollte. In jedem Jahr das gleiche Ritual. Das war keine einfache Sache, die in wenigen Minuten erledigt war. Es musste alles stimmen an diesem Tag. Auf keinen Fall durfte Regenwetter sein. Wie konnte sie einen Weihnachtsbaum von allen Seiten begutachten mit einem Regenschirm in der Hand? Auch ein paar Tage vorher sollte nicht unbedingt feuchtes Wetter gewesen sein. Auf dem Gelände, dort wo die Bäume stehen, war der Boden bei Schmuddel- oder Regenwetter aufgeweicht und tief. Gummistiefel waren an solchen Tagen ein Muss. Im Glücksfall erwischte sie einen günstigen Tag.

 Der Chef der Bäume war persönlich vor Ort und versprach sofort, den ausgesuchten Baum drei Tage vor Weihnachten anzuliefern und seitlich in ihrem Hof zu Hause abzustellen. Ansonsten musste der Ausgesuchte nach Hause getragen werden und das ging nur mit festen Handschuhen. Ganz so schnell ging es jedoch nicht mit dem Handel. Nach dem Motto »Gut Ding braucht Weile« waren äußerste Sorgfalt und Geduld von Nöten. Ein kurzer Weg von knapp zehn Minuten und sie war vor Ort. Hier standen sie, die Bäume und Bäumchen, frei über das Feld verteilt, in ihren hell- und dunkelgrünen Nadelkleidern. Einige trugen auch ein silbern glänzendes, beinahe bläulich leuchtendes Winterkleid. 

»Schauen Sie mal, ob Sie etwas Passendes finden«. Das hatte sich der gute Mann einfacher gedacht, als es war. Sie hatte beim Baumkauf ganz bestimmte Vorstellungen: Auf alle Fälle eine »Nordmanntanne« musste es sein. Die sind in ihrem Nadelkleid humaner als Fichten, Kiefern oder Edeltannen. Ihre Nadeln sind seidenweich und griffig, die Hände werden beim Anfassen und Schmücken nicht zerstochen, sondern ihnen wird geradezu geschmeichelt. Es ist ein Erlebnis, ein Ästchen solch eines Weihnachtsbaumes sachte durch die Hand gleiten zu lassen.

Die Höhe des Baumes sollte ca. 1,50 m betragen, nicht zu breit, damit er nicht so weit ins Zimmer ragt mit seinen Ästen, jedoch diese wiederum nicht zu dicht gewachsen, sonst kann man ja kein Zierrat dazwischen aufhängen. Außerdem musste die Tanne kerzengerade sein und eine schöne Spitze haben. Kurzum, der auszusuchende Baum sollte ein Prachtstück sein, ganz nach ihrem Geschmack. Folglich wurde auch von ihr vor Ort beinahe jeder Baum lange in Augenschein genommen und von allen Seiten begutachtet. Es kam schon einmal vor, dass der Baumeigner den Ausgesuchten absägen musste. Dann wurde dieser auf einen Tisch gestellt und dort nochmals mehrfach gedreht und gewendet und von allen Seiten begutachtet, um nach wenigen Augenblicken festzustellen: Es war doch noch nicht der richtige Baum.

In manchen Jahren ging sie schon beizeiten – so Mitte bis Ende November – aufs Gelände, einen Baum auszusuchen und diesen für sich vormerken zu lassen. Auf diese Weise kam sie auf alle Fälle nicht zu spät. Der Verkäufer befestigte dann ein kleines Schild an einem Zweig, auf dem ihr Name stand. So konnte nun nichts mehr schief gehen. (Es sei denn, es fand sich ein Liebhaber für gerade dieses Bäumchen, der kurzerhand das Namensschild abhängte. Das wäre es dann gewesen mit der frühzeitigen Wahl.) 

Jetzt zum eigentlichen Grund dieser Erzählung. Im vergangenen Jahr, drei Wochen vor dem Fest, war ein Tag mit absolut trockenem und freundlichem Wetter. Die Sonne schickte einige zaghafte Strahlen auf Natur und Mensch. Ein Hauch von Wind fächelte ein wenig frische Luft. »Heute suche ich den Weihnachtsbaum aus«, waren an diesem Morgen ihre Worte. Gummistiefel, Jacke und Handschuhe – so ausgerüstet machte sie sich auf den Weg. Oh, da kam Freude auf. Das war heute der richtige Tag für ihr Vorhaben. Der Kauf musste wohl gelingen. Und auf dem Weg zum »Feld der Bäume« überzog ein Lächeln freudiger Erwartung ihr Gesicht.

»Einen schönen guten Morgen. Heute möchte ich endlich meinen diesjährigen Weihnachtsbaum aussuchen. Wird heute ganz schnell gehen. Sie brauchen keine Angst zu haben.« Sagte es und machte sich daran, alle Nordmanntannen, die in Frage kommen könnten, erst einmal aufzuspüren und dann genauestens zu begutachten. Eine knappe halbe Stunde war vergangen. Eine passende Tanne hatte sie noch nicht gefunden. »Sehen Sie sich doch einmal diesen an. Ich denke, der wäre wunderbar passend für Sie und entspräche ganz Ihren Wünschen.« Der Verkäufer, der ihr meist langwieriges Suchen schon mehrmals erlebt hatte, versuchte zu helfen.

»Ach nein, der ist unten herum zu dicht gewachsen und wenn wir da noch ein Stück Stamm absägen, wird er zu kurz.« So verging eine weitere halbe Stunde ohne Erfolg. »Ich habe Ihnen schon mal einen Baum ausgesucht und ein Schildchen drangehängt. Aber schauen Sie selbst. Er steht dort hinten.« Sie hin – aber oh je – auch für diesen konnte sie sich nicht erwärmen. Langsam wurde sie ungeduldig und nervös. Und wenn sie erst einmal nervös wurde, dann wurde aus dem ganzen Weihnachtsbaumkauf heute absolut nichts mehr.

Da, was ist denn mit diesem dort, ca. 1,50 m hoch, schlank gewachsen, nicht zu breit und nicht zu dicht. Da stimmte wohl alles. Aber – ach du meine Güte! – was war bloß mit der Spitze los? Wieso hatte der Kerl denn zwei Spitzen? Und diese beiden Spitzen hingen nach zwei Seiten recht dürftig nach unten. Das war ja ohne Worte. Solch ein prächtiger Baum und z w e i Spitzen. Trostlose Traurigkeit. Sie sah sogleich, dass es unmöglich war, eine davon abzusägen, denn würde man eine der beiden absägen, so würde die andere, verbliebene Spitze ja nicht mehr die Mitte des Baumes krönen. So ein Mist! Was sollte sie nun machen? Schon war beinahe der ganze Vormittag bei dieser bisher vergeblichen Suche draufgegangen. Und das, wo sie doch so wenig Zeit hatte. Was hatte sie noch alles erledigen wollen heute.

Es folgte – um die Geschichte voranzubringen – ein heroischer Entschluss. »Ich nehme diesen da! Er schaut mir doch so arg traurig in die Gegend. Er tut mir leid. Sicher wollte ihn bisher niemand kaufen wegen der zwei Spitzen. Der arme Kerl. Er wird sich sicher freuen, bald zu uns ins warme Weihnachtszimmer zu kommen.« Der Verkäufer blieb ganz ruhig ob ihres spontanen Entschlusses. Er holte die Säge, schulterte das dünne Bäumchen und schob es mit Kraft in den großen Trichter. Fest verschnürt und bereit zum Abtransport entschlüpfte die Tanne auf der anderen Seite ihrem kurzen Gefängnis. Jetzt war die Situation gerettet und der Kauf absolut schnell abgewickelt worden. Kaufentschluss – bezahlt – verpackt – und nun ab damit. Stolz trug sie die Tanne den kurzen Weg nach Hause.

Und nun das sehr bittere und doch überraschende Ende der Geschichte. Zwei Tage vor dem Fest wickelte ihr Mann den gekauften Baum aus seiner luftigen Umhüllung, stellte ihn in den Christbaumständer – ein kräftiger Tritt mit seinem rechten Fuß auf den Hebel – und schnapp, griff sich der Ständer von allen vier Seiten den Baumstamm, schnappte zu und der Kerl stand nun pickelfest im Ständer. Ein Entrinnen war unmöglich geworden. »Was hast du denn da gekauft? Du hast dir wohl nicht genug Zeit gelassen, in Ruhe einen Baum auszusuchen? Dieser da ist ja gänzlich unmöglich. Sein Stamm ist völlig windschief, dreht sich in sich zweimal, ja und der ganze Baum ist zu mager, zu traurig und völlig unakzeptabel.«

Zu zweit standen sie vor dem wirklich dürrrappeligen Bäumchen. »Ach, weißt du, ich habe lange gesucht und keinen schönen gefunden. Dieser da, der hat mir so leidgetan, weil er so hässlich ist und so traurig seine Spitzen hat hängen lassen. Was sollen wir damit jetzt nur machen? So können wir ihn wahrlich nicht ins Wohnzimmer stellen. Da lachen ja die Kinder, wenn sie an Weihnachten kommen.«

»Weißt du, wir stellen deinen hängigen Freund nach draußen auf unsere vordere Terrasse. Am Abend wird es dunkel und niemand wird dann bemerken, dass er eigentlich eine Missgeburt ist. Wenn die elektrischen Kerzen brennen, schaut sowieso jeder Betrachter ins Licht und mit keinem Blick mehr auf den Baum, der hinter oder unter den Lichtern steht.« Gesagt – getan. Der Baum kam nach draußen. Leider musste sie am nächsten Tag nochmals losziehen, um einen neuen Baum für das Wohnzimmer zu kaufen. Dieses Mal ging der Herr des Hauses natürlich mit und half beim Aussuchen.

Der traurige, windschiefe Bursche, der jetzt im Freien an manchen Tagen sogar bei Wind und Regen zubringen musste, fühlte sich dort aber pudelwohl. Hier an seinem Freiluftstandort konnten ihn ja viel mehr Leute sehen als im Wohnzimmer. So manches Mal gelang es dem Baum sogar, einzelne Töne der Kirchenglocken der nahe gelegenen Dorfkirche zu erhaschen. Und wenn auch seine Zweige wegen der inzwischen daran befestigten Lämpchen schwerer geworden waren, so versuchte er trotzdem, diese ein wenig mehr in die Länge zu strecken und voll Stolz auch ein wenig anzuheben.

Als das Weihnachtsfest schon längst Vergangenheit war, durfte der Baum noch bis Silvester und einige Tage darüber in den dunklen Abendstunden mit seinen elektrischen Kerzen in die Nacht leuchten. Und der schmale, etwas dürftige Tannenbaum war sehr stolz und glücklich und die Menschen, die auf der Straße vorübergingen, freuten sich über das weihnachtliche Nachleuchten.

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