SCHLÜCHTERN

"Außenstürmer, Mittelläufer und Verteidiger":100 Jahre SG Alemannia Hutten

Bilder aus 100 Jahre Vereinsgeschichte. - Fotos: Walter Dörr


Samstag, 05.10.2019
von Walter Dörr

SCHLÜCHTERN - „Ich möchte diesen Tag der Historie mit einem Vortrag bereichern, der im Zuge des 100-jährigen Bestehens der SG Hutten durch einen Zufall zustande kam und mich aus dem Rhein-Main-Gebiet hier her führte,“ begann Harald Spoerl am Sonntagnachmittag im Dorfgemeinschaftshaus Hutten seinen Vortrag über Gastspielerregelungen im zweiten Weltkrieg und in diesem Zusammenhang das Spielen des Hutteners Heinrich Löffert bei Kickers Offenbach. Spoerl ist ehrenamtlicher Mitarbeiter und Archivar im europaweit einzigen privat geführten Museum eines Fußballvereins, dem Kickers Fan Museum, in Offenbach. 

Seit 1994 beschäftigt er sich mit der Geschichte des Vereins, führt ein Spielerarchiv, hält zweimal jährlich Vorträge im Haus der Stadtgeschichte in Offenbach, hat an einigen Publikationen rund um den OFC mitgearbeitet und gilt in Fankreisen als „das Lexikon des OFC“. Spoerl verfügt über weitreichende Kontakte zu Historikern anderer Vereine und interessiert sich allgemein über historische Geschichten rund um den deutschen Fußball. Also ein Fachmann in Sachen Fußball. Rainer Heinbuch, der mit Roland Ochs, Petra Kaufmann und Rüdiger Schmidt ein Redaktionsteam für das 100-jährige Vereinsgeschehen bildet und speziell die Historischen Ausstellung über die traditionsreiche Geschichte der Alemannia vorbereitete, richtete sich bezüglich des Huttener Spielers Heinrich Löffert an das OFC-Fan-Museum. 

„Ich bin gerne bereit, über die dunkle Zeit zwischen 1939 und 1945 und die sportliche Heimat des Heinrich Löffert in Offenbach zu berichten,“ machte Spoerl neugierig, denn die meisten der jüngeren Besucher im Dorfgemeinschaftshaus kannten Löffert nicht. Der 56 Jahre alte Harald Spoerl war selbst langjähriger Fußballer und auf dem Spielfeld gewohnt, mit seinem Gegenüber „per du“ zu sein. „Jeder Mensch ist irgendwie gleich und so sollte man sich auch verhalten,“ bat er vorab um Verständnis für das „Duzen“. Die meisten der Gäste sind oder waren Sportler und weil das „Duzen“ in der Dorfgemeinschaft sowieso üblich ist, gab es da keine Probleme.

Im folgenden Vortrag erläuterte Harald Spoerl das am 1. September 1939 ins Leben gerufenen „Gastspielrecht“, dessen Umsetzung in seinem Heimatverein Kickers Offenbach und die Rolle von Heinrich Löffert dort. Durch den am 1. September 1939 ausgebrochenen Zweiten Weltkrieg wurde die fünf Tage zuvor gestartete Spielzeit 1939/40 abgebrochen. Hans von Tschammer und Osten, seines Zeichens Reichssportführer im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen (NSRL), zauberte umgehend das so genannte „Gastspielrecht“ aus dem Hut. Der komplette Text des Gesetzes und was alles in diesem umfangreichen Werk geregelt wurde, ist dem Archivar nicht bekannt und auch in den damaligen Sportzeitungen sei nur auszugsweise darüber berichtet worden.

Spoerl vermutete, dass diese neuen Regeln schon bedeutend früher verfasst worden seien und somit ein Krieg geplant war. Mit Kriegsausbruch konnte direkt darauf zurückgegriffen werden. Die Tatsache, warum sich das Gastspielrecht nicht auf das gesamte Staatsgebiet bezog, berge laut Spoerl einige Fragen in sich, und dazu komme die Tatsache, dass es nach jeder Spielzeit geändert wurde, beziehungsweise sich auf die neuerlichen Situationen wie neu besetzte Gebiete, neu hinzu gekommene Vereine und später abgemeldete und bzw. oder nicht mehr spielfähige oder verbotene Klubs relativ schnell reagiert wurde. In diversen Änderungen konnte man sich auf die jegliche neue Situation einstellen. „Man wollte auch in Kriegszeiten dem Volk den Fußball nicht vorenthalten und benutzte ihn als probates Propagandamittel,“ sagte der Referent. In seinem ursprünglichen Text verbot der Reichssportführer jegliche Vereinswechsel, verfügte aber gleichzeitig, dass „… militärisch Dienstleistende das Recht haben, als Gastmitglieder in örtlichen Vereinen ihres Standortes mit zu wirken. Sie bleiben Mitglieder in ihren Heimatvereinen und sind nach kurzer Sperrfrist für diesen auch wieder spielberechtigt, wenn sie Urlaub haben oder aus wichtigen Gründen für die Heimreise frei gestellt sind. Diese Reglung gilt auch für Sportler die Arbeitsdienst leisten oder aus anderen, für kriegswichtig angesehenen Gründen, von ihrem Heimatort weg versetzt werden...“.

Im Laufe der Zeit bis 1944 veränderte sich das Regelwerk aufgrund des Kriegsverlaufs ständig. Neue Paragraphen wurden hinzu gefügt oder gestrichen – je nach Lage des Krieges. Besonders die jeweiligen Vereinsführer hätten sich mit dem Studium der einzelnen Vorgaben befasst und konnten sich dadurch gewisse Vorteile verschaffen - zusammen mit den nötigen „Kontakten“. Im Ballungsraum des Rhein-Main-Gebietes war dieses Wissen sehr wichtig, denn es ging bei den einzelnen Soldaten um den „Ort ihrer Stationierung“, also die Kaserne/Stadt in der sie untergebracht waren. Nicht jede Stadt verfügte über Kasernen. Wie Offenbach. Zwar gab es einige FLAK-Stellungen und andere kriegsrelevante Einrichtungen, wie die so genannte örtliche Rüstungsindustrie, aber eben keine Kaserne. Die nächste FLAK-Kaserne war in Frankfurt-Hausen. Als kriegsrelevant zählte nicht nur der Maschinenbau, so Spoerl, sondern auch die lederverarbeitende Industrie, die nach der Räumung der „Roten Zone“ verstärkt Schuhe für die Landser herstellte und natürlich die Zulieferer der jeweiligen Industriezweige. Die Kickers kamen an Gastspieler durch einen Paragraphen, der es den Soldaten freistellte, bei Bereichsklassenvereinen in ihrer „Nähe“ anzuheuern. In Frankfurt gab es mehrere, aber ab 1939/40 dominierten die Kickers aus Offenbach nahezu konkurrenzlos bis zum Kriegsende das Rhein-Main-Gebiet, so dass dieser Verein sehr gefragt war. Die Vereinsvorsitzenden fanden noch ein Schlupfloch in dem Gesetzestext.

Spoerl: „Seinerzeit legte man viel Wert auf „Stadtmannschaften“, die aus den besten Spielern zusammengestellt wurden, und da in Offenbach schon seit jeher eine erstklassige Jugendarbeit geleistet wurde, wollte Frankfurt einige dieser Spieler gerne einsetzen, da diese noch nicht im Krieg eingesetzt waren und an der so genannten Heimatfront ihren Arbeitsdienst (RAD) verrichteten oder als „uk-gestellt“ nicht an Kriegshandlungen teilnehmen mussten. Uk-gestellt bedeutet „unabkömmlich, da in der regionalen Rüstungsindustrie unersetzlich“. Wollte Frankfurt also diese Spieler einsetzen, sollte der OFC Zugriff auf Frankfurter Kasernen bekommen. Der Schachzug gelang und die außergewöhnlich guten Beziehungen zu gewissen Führungspersonen in der FLAK-Kaserne, sowie einen Trainer, der den Rhein-Main-Fußball besser kannte als manch anderer, machten es möglich, dass nach und nach richtige „Kanonen“ die Kickers verstärkten und fortan nur eine Mannschaft das Gebiet fast nach Belieben dominierte.

Offenbachs Vorstand setzte sich seinerzeit aus einer Reihe „der Regierung nahestehender Personen“ zusammen, die politisch und kriegsunterstützend agierten, wie die an der regionalen Rüstungsindustrie stark beteiligten Firmen Stahlbau Lavis, das Fuhrunternehmen Neubert und weitere in Offenbach ansässige Unternehmen. Entscheidungen seien immer „im Sinne der Partei und des deutschen Volkes“ getroffen wurden. Als einer der ersten Vereine beteiligte sich der OFC beim Aufruf zur Metallspende am 30. April 1940 und ließ sämtlich bis dato errungenen Pokale „für Volk und Vaterland“ einschmelzen. Bereits 1933 waren gewisse Personen aus dem Verein „ausgeschieden“ und man gab öffentlich bekannt: „Die Kickers sind frei von jüdischem Einfluss“. Offenbach nahm am 31. August 1939 rund 2000 Evakuierte aus Pirmasens auf, verschaffte ihnen Wohnungen und gab dem bedeutenden Unternehmen Rheinberger aus Pirmasens Produktions- und Lagerräume um die kriegswichtige Schuhproduktion fortsetzen zu können. Im Arbeitsdienst Tätigen verschafften namhafte Firmen Arbeitsplätze und banden sie somit an Offenbach. Alle Offenbacher Spieler hatten handwerkliche Berufe gelernt oder waren dem System nahestehend. Die Polizisten, die beim PSV, später MSV Darmstadt, von Rudel Keller trainiert wurden, waren keine Kaufleute, im Gegensatz zum Verein auf der anderen Mainseite, der seine ausgebildeten Kaufleute zum Wehrdienst ins ganze Reich ziehen lassen musste.

Spoerl sah einiges aus dieser Zeit, was eigentlich gegen den OFC spricht, aber man könne die Vergangenheit nicht unvergessen machen. Bei den Offenbacher Kickers spielten zwischen 1939 und 1944 in 98 Meisterschaftsspielen insgesamt 69 Spieler, 43 davon waren Gastspieler. Für einige der Gastspieler eröffneten sich riesige Möglichkeiten, wie für den Heinrich Krückeberg, der aus Laatzen stammte, bei 1860 München als Gast spielte und Nationalspieler wurde. Auch beim OFC schaffte es ein unterklassiger Spieler, Stammspieler zu werden: Heinrich Löffert von der SG Alemannia Hutten. Löffert spielte erst in der Spielvereinigung Fechenheim 1903 und kam zusammen mit Hans Schnell im Februar 1943 zum OFC. Nach einem Erlass des Reichssportführers von Tschammer vom 22. Februar 1943 war die Leibesertüchtigung des Volkes kriegswichtig und mit Nachdruck zu betreiben. Sportliche Veranstaltungen und Wettkämpfe örtlichen und nachbarlichen Charakters bis zur Gaustufe sind zur Erhaltung des Arbeits- und Leistungswillens durchzuführen. Nachbarlicher Sportverkehr gilt auch über die Gaugrenze bis 100 Kilometer vom Heimatort. Gesichtet wurde Heinrich Löffert bei einem der vielen Spiele von Frankfurter Militärmannschaften, die gegeneinander spielten, wie Artillerie gegen Nachschub, Funker gegen Sanitäter, Pioniere gegen Grenadiere oder FLAK Frankfurt gegen die Stadtelf Frankfurt. „Der Läufer Löffert“ fiel bei der FLAK besonders auf.

Beim OFC war er zuerst als Außenstürmer, dann als Mittelläufer und Verteidiger eingesetzt und bestritt offiziell ab Februar 1943 zahlreiche Spiele auf Freundschafts-, Meisterschafts- und Pokalebene für die Offenbacher Kickers. Offiziell bedeutet, dass dies der Zeitpunkt war, an dem er namentlich als „neuer Mann aus Fechenheim“ beschrieben wurde. Ob er eventuell sogar bereits früher für den OFC aufgelaufen ist, konnte Spoerl nicht belegen. Er räumte ein, dass es seinerzeit bei der Vielzahl an Gastspielern durchaus möglich war, unter falschem Namen zu spielen. „Sicher ist auf jeden Fall, dass Heinrich Löffert mit dem OFC 1942/43 und 1943/44 zu Meisterehren kam und in der Qualifikation zur Endrunde um die deutsche Meisterschaft im altehrwürdigen Stadion an der Grünwalder Straße gegen den TSV 1860 München mitwirkte,“ sagte Spoerl. Anhand von Pressebildern belegte dies Spoerl. Ende der Spielzeit 1943/44 scheiterte der OFC wiederum in der Qualifikation, diesmal gegen den FC Mühlhausen. Viele Vereine konnten keine Mannschaften mehr stellen, Verkehrswege waren kaputt oder der Treibstoff für Auswärtsspiele reichte nicht mehr.

„Bis zum Letzten“ spielte man weiter, neue Klassen mit Mannschaften oder Kriegsvereinigungen aus einer Umgebung von maximal 15 Kilometern wurden zusammengestellt und ersetzten die Bereichsklassen. Die OFC Mannschaft schlug am 21. Mai 1944 die KSG Frankfurt (FSV-Frankfurt und SG Eintracht Frankfurt) mit 10:0. Gespielt wurde lediglich die Vorrunde bis Dezember 1944. Referent Spoerl sagte, dass Spielernamen in der Zeitung verschwanden und man auf ausführliche Spielberichte aufgrund des bevor­stehenden Endes gänzlich verzichtete. Bereits im August 1945, ein halbes Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, begann der Ball wieder zu rollen, aber erst 1948 wurden einheitliche Transferbestimmungen festgelegt. Spieler kehrten aus der Gefangenschaft heim, wurden vertrieben oder blieben. Heinrich Löffert zählte zu ihnen und kam wahrscheinlich nicht ohne Zwischenstation zurück nach Hutten. Wie Spoerl wusste, wurde Löffert 1958 für sein 1000. Spiel bei der SG Hutten 1919 ausgezeichnet. Ein Zeichen, wie sehr er mit der Alemannia verbunden war. Als herausragender Mittelläufer der Kriegsjahre, aus Hutten stammend. Behalten werde Heinrich Löffert seinen Platz in der Historie der Offenbacher Kickers. Er habe auch in Hutten ein ähnliches Denkmal verdient, wie es Herrmann Nuber in Offenbach hat. Großes Interesse fand die historische Ausstellung mit Exponaten, Dokumenten und Bildern von 1919 bis 2019. +++  

Neues Beliebtes
    Kontakt
    Kinzig.News Redaktion:
    Telefon:06051 88770 230
    E-Mail: [email protected]
    Kinzig.News Vertrieb:
    Telefon:06051 88770 180
    E-Mail: [email protected]
    Kinzig.Termine