Bei „Reciclage“ wird die „zweite Chance“ zum roten Faden

Upcycling: Ausgediente Werbebanner werden zu stylischen Unikaten

Claudia Dürr mit ihren Söhnen Julian und Richard - Fotos: goa


Samstag, 03.06.2023

ALZENAU - Produktion - kurzfristige Nutzung - Entsorgung. Viel zu oft ist dies die Realität wirtschaftlicher Prozesse, die nicht immer mit zeitgemäßen Vorstellungen von Nachhaltigkeit und Umweltschutz in Einklang zu bringen ist. Dass es mit viel Kreativität, Know-How und handwerklichem Geschick durchaus auch anders gehen kann, beweist ein kleines Unternehmen in Alzenau. Nicht mehr benötigte Produkte aus wertvollen Werbematerialien werden im Kundenauftrag dem sicheren Entsorgungsschicksal entrissen und durch ein Upcycling einer neuen langfristigen Verwendung zugeführt. Wenn das Ganze dann auch noch in großartig aussehenden und für die Auftraggeber werbenden „neuen“ Unikaten mündet, hat nicht nur das Material seine zweite Chance erhalten, sondern spannenderweise auch der Faktor „Mensch“. KINZIG.NEWS hat dem Unternehmen einen Besuch abgestattet.

Claudia Dürr ist Geschäftsführerin des Unternehmens Reciclage, dessen französisch ausgesprochener Firmenname sich aus Recycling und Agieren zusammensetzt. Dürrs Vater war Österreicher, ihre Mutter Brasilianerin deutscher Abstammung. Vor über 30 Jahren kam die Unternehmerin aus Brasilien nach Deutschland. In Sao Paulo hatte sie Industriedesign studiert und leitete eine Textilfirma. Ihre Oma war in 1898 nach Brasilien ausgewandert, hatte mit Gärtnerei zu tun und weckte bei Enkelin Claudia schon früh die Liebe zur Natur und Pflanzenwelt. Dementsprechend waren Umweltschutz und Nachhaltigkeit schon immer relevante Themen für sie und wurden zu steten Wegbegleitern auf den unternehmerischen Pfaden. Soziale Verantwortung gesellte sich hinzu: in Sao Paulo arbeitete sie ehrenamtlich in Favelas.

Dürr führte von 2018 bis 2021 in Aschaffenburg unter dem Namen Reciclage einen Weltladen, weil ihr Fair-Trade, Frauenrechte und soziale Verantwortung auch bei ihrer geschäftlichen Tätigkeit in Deutschland wichtig waren. So konnten soziale Projekte in Brasilien, bei denen das Upcycling im Mittelpunkt steht, gefördert werden. Eine erste Anfrage von „Brot für die Welt“ vor 11 Jahren setzte den Startpunkt für das Upcycling von Werbebannern, das nach und nach wuchs. Vor drei Jahren stiegen die beiden Söhne in die Geschäftsleitung mit ein und seit knapp einem Jahr befindet sich, dem größeren Platzbedarf geschuldet, der Firmensitz in Alzenau-Michelbach. „Von der südamerikanischen Metropole mit 22 Millionen Einwohnern nach Alzenau mit 22 Tausend – das ist schon eine echte Umstellung!“, sagt Claudia Dürr und muss selbst ein wenig lächeln, nachdem sie gerade kürzlich wieder für ein paar Wochen in Sao Paulo weilte.

Reciclage besteht im Produktionsbereich aus drei gelernten Näher*innen als Vollzeitangestellte, alle drei mit Fluchthintergrund aus Afghanistan, sowie drei Minijobbern. Claudia Dürr: „Diesen Menschen hier eine Arbeitsstelle anzubieten ist für uns auch Teil der Philosophie einer „zweiten Chance“. Sie würden auf dem regulären ersten Arbeitsmarkt wohl keine Stelle bekommen. Bei aller sozialen Verantwortung bin ich aber auch streng, wenn es darum geht, dass unsere Mitarbeiter die deutsche Sprache lernen. Nur so ist eine gute Integration möglich! Daher motiviere ich sie immer zum Vokabellernen!“

Eine Nähwerkstatt befindet sich außerdem in Polen, wo Geflüchtete aus der Ukraine tätig sind. Ferner besteht mit der GSE in Essen, einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, eine enge Kooperation.

Selbst der Tisch im Besprechungsraum, früher war es eine Tür, erfährt hier seine „zweite Chance“
Selbst der Tisch im Besprechungsraum, früher war es eine Tür, erfährt hier seine „zweite Chance“
Ein Banner eines Laufevents, vorn die Stanzvorlage, daneben bereits ausgestanztes Material und ein fertiges Schlüsselmäppchen
Ein Banner eines Laufevents, vorn die Stanzvorlage, daneben bereits ausgestanztes Material und ein fertiges Schlüsselmäppchen
Ein Zeitungsausschnitt aus Brasilien über das dortige soziale Engagement von Claudia Dürr in 1989
Ein Zeitungsausschnitt aus Brasilien über das dortige soziale Engagement von Claudia Dürr in 1989

Die Söhne und die Abläufe

Richard Dürr ist 31 Jahre alt und studierte Tourismus mit Schwerpunkt Marketing und Events. Er leistet bei Reciclage die Projektarbeit vom ersten Kundenkontakt bis zum fertigen Produkt. Sein Bruder Julian, 28, ist nun ebenfalls seit drei Jahren mit in der Geschäftsleitung. Seine Bachelorarbeit war dem Wirken von Reciclage auf den Leib geschnitten: sie thematisierte „Upcycling als Geschäftsmodell“. Julian Dürr: „Es geht um mehr als Recycling, weil die Stichworte Nachhaltigkeit und Individualität mitberücksichtigt werden. Unter Nachhaltigkeit verstehen wir dabei die Schonung von Ressourcen und soziales Engagement – das macht das Upcycling im Sinne von Reciclage aus“.

Die beiden Brüder klären bei einer Kundenanfrage zunächst ab: eignet sich das kundenseitig zur Verfügung stehende Material von seiner Beschaffenheit her? Welches Endprodukt und welches Design kommt in Frage? Richard Dürr: „Wir lassen uns zunächst Proben der Ursprungsmaterialien übersenden, in der Regel Werbebanner, Planen, Roll-Ups, Beach-Flags. Mittlerweile können wir meistens recht schnell beurteilen, was möglich ist, oder es wird experimentiert. Dann werden Entwürfe erstellt und mit dem Kunden abgestimmt. Das Material wird grundgereinigt, die Formen ausgestanzt, und dann wird genäht – natürlich alles in Handarbeit. Und selbst wenn mal eine Anfrage wegen der Ungeeignetheit des angebotenen Materials nicht umgesetzt werden kann, setzt zum Beispiel bereits der Hinweis auf möglichst wenig PVC bei künftigen Werbemitteln oft einen Impuls beim Kunden!“

Produktbeispiele

Ein Immobilienunternehmen lässt gerade aus den Sichtschutzbannern, die am Bauzaun einer Baustelle angebracht waren, Schlüsselmäppchen für die Erstbezieher der Wohnungen fertigen. Das gleiche tut die TG Schwalbach mit den Bannern des jährlichen Benefiz-Laufevents „Lauf gegen Armut“ – die Starter erhalten ein Schlüsselmäppchen aus den Vorjahresbannern. In gleicher Weise verwertet aktuell der Wiesbadener Textildienstleister MEWA, seit 2021 Namensgeber des Stadions in Mainz, seine inaktuell gewordenen Banner, siehe Foto.

Die Bandbreite der von Reciclage gefertigten Werbeträger ist groß und immer ein Hingucker: Handtaschen, Handy- und Notebookhüllen, Etuis, Werkzeugtaschen für den Fahrradrahmen, Soft- und Bodybags – eine wahre Vielfalt von Farben und Formen. Die Produkte tragen übrigens auch eine Komponente aus dem Main-Kinzig-Kreis: die Etiketten mit dem Schriftzug des Werbenden und einem Hinweis auf die Vergangenheit des Produktes kommen aus einer Druckerei in Linsengericht. Weitere Reciclage-Kunden: Brot für die Welt, Otto-Versand, NDR, Adidas, der mittelhessische Energieversorger OVAG sowie etliche Bundesministerien.

Mengen-Bilanz der ersten fünf Monate

Ein paar Zahlen über die Material-Verwertungen allein aus den ersten fünf Monaten dieses Jahres verdeutlichen die bereits jetzt beeindruckenden Dimensionen: Fahnenstoff: 2450 m², Mesh-Banner: 1391 m², PVC-Banner: 1473 m², Messerückwand: 565 m², Textil-Banner: 580 m², sonstiges: 120 m² PreZero-Textilstreifen, 100 Meter Nike Jordan Bänder, die an Etuis angebracht wurden.

Optimistische Prognosen

Richard Dürr: „Die Nachfrage wird größer, ich kann mir durchaus vorstellen, dass unser Personalbedarf steigen wird!“ Die Aussichten dafür, dass er recht haben wird, dürften gut sein.

Es gibt Menschen, Ideen und Wirtschaftsprozesse, die unser Zusammenleben auf diesem Planeten ein klein wenig besser machen, sogar zum Nachdenken und Nachahmen anregen können. Reciclage mit seiner „Produktion von zweiten Chancen“ gehört definitiv dazu! (goa)

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