KOMMENTAR: "Schmaler Grat zwischen Vernunft und Drang nach Freiheit"

Samstag, 09.05.2020
von HANS-HUBERTUS BRAUNE
MAIN-KINZIG-KREIS - Die vergangenen Wochen oder besser gesagt mittlerweile schon Monate haben nahezu alles verändert. Erst war das Coronavirus weit weg und eher eine Randnotiz in den Nachrichten. In Fernost gibt es wieder so ein Virus. Egal, interessiert uns nicht. Hauptsache Spaß. Doch die Sause in den allseits bekannten Orten ist vorbei. Rasend schnell breitete sich das Coronavirus in Europa aus. Von 100 auf null, von Hochprozentig auf Leitungswasser sozusagen ging es im März 2020. "Lockdown" wird der Zustand beschrieben und wird sicher seinen Weg in die Geschichtsbücher finden. Vor allem die Wirtschaft ist größtenteils eingebrochen - und das weltweit.
Kanzlerin Angela Merkel spricht zur Nation, auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft zum Zusammenhalt auf. Das öffentliche Leben wird zurückgefahren, die Menschen bleiben zu Hause. Die Angst lähmt die meisten Menschen - die entsprechenden Bilder in den Nachrichtensendungen tun ihr Übriges dazu. Virologen übernehmen das Zepter.
Auch an Ostern. Spazierengehen, mehr ist nicht drin. Die Infektionszahlen entwickeln sich zum Glück nicht so, wie es verschiedene Experten vorhergesagt haben. Trotzdem werden über 7.200 Todesfälle bislang in Zusammenhang mit der Covid 19-Erkrankung gebracht. Über 166.000 Menschen haben sich infiziert - die wirkliche Dunkelziffer kennt niemand - und scheint regional unterschiedlich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und das Bremspedal
Und die Politik? Am Anfang sind alle froh, dass die Kanzlerin die schlechten Nachrichten verbreitet, sich an oberster Stelle ans Volk wendet. Sie hat ihren Laden zusammengehalten. Und mal ehrlich: Wir können froh sein, dass die Kanzlerin das Bremspedal durchgedrückt hat. Da braucht es nur einen Blick in andere Länder. Die Menschen bei uns haben auf vieles verzichtet, ihre Grundrechte zähneknirschend massiv einschränken lassen. Während das für einige "moderne" Menschen eine neue Möglichkeit ist, sich in den sozialen Medien plötzlich beim Erkunden der Natur vor der Haustür, ob zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu präsentieren, leiden viele Menschen unter den Folgen der Corona-Pandemie.
Die Viruserkrankung mit ihren teils dramatischen gesundheitlichen Folgen, die Einsamkeit in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen, die seelischen Belastungen in den entsprechenden Berufsgruppen, die finanziellen Nöte von Unternehmern, Geschäftsleuten und Familien - das sind die wirklich schlimmen Folgen der Corona-Pandemie.
Die Zahlen sind aktuell einigermaßen im Griff, je weniger Infizierte, desto besser. Der Politik reicht die Entwicklung, um die Corona-Maßnahmen deutlich zu lockern. Auf den ersten Blick zumindest. Vieles darf wieder geöffnet werden, zwei Haushalte oder Familien dürfen sich treffen, ohne, dass sie den Mindestabstand von einem Meter 50 einhalten müssen. Die Liste der Lockerungen ist lang - die Liste der entsprechenden Vorgaben auch.
"Viele Menschen blicken nicht durch - verständlich"
Und das macht es schwierig. Was darf ich denn nun wirklich? Was nicht? Viele Menschen blicken da nicht durch - verständlich. Aber selbst für die Geschäftsleute ist es nicht einfach, sie müssen jetzt sehen, wie sie die Konzepte für die jeweilige Branche in ihrem Geschäft oder Restaurant, Hotel und Gasthof hinbekommen. Aber sie haben keine andere Wahl - lieber wenige Kunden als überhaupt keine. Ob sich das alles rechnet, bleibt abzuwarten.
Dazu kommen die Diskussionen: War das nun zu viel an Lockerungen? Schnell ist eine Meinung in den "sozialen" Medien inklusive Beleidigungen, Hass und Hetze geschrieben. Denken Sie mal nach: Wollen Sie in der Verantwortung stehen? Wissen Sie wirklich, welches Maß sinnvoll ist? Ich weiß es nicht.
Ein kleinen Beispiel: Ehrenamtlich bin ich Vorsitzender beim Jugendförderverein Aulatal. Über 200 Mädchen und Jungs spielen bei uns Fußball. Nach langen Wochen mit maximal Online-Training und organisiertem Fußballturnier am Bildschirm ("eSports") dürfen sie nun wieder auf die Sportplätze. Die notwendigen Hygiene- und Abstandsregeln sind so umfangreich, dass wir uns fragen, ob es überhaupt Sinn macht. Auf der einen Seite wollen die Kinder und Jugendlichen verständlicherweise mit ihren Kumpels kicken, auf der anderen Seite haben wir die Verantwortung. Können wir die verständlichen Vorschriften einhalten? Was bringt es jetzt, zu trainieren? Zweikämpfe gehören zum Fußball wie das Salz in der Suppe. Und das "Spielen" im Training oder natürlich im Wettkampf. Das alles geht nicht. Können die Trainer das alles leisten, was vorgegeben wird? Es ist nun für uns die Frage, zwischen Vernunft und dem Drang nach Freiheit zu entscheiden.
Wollen wir die Verantwortung übernehmen?
Es ist die Verantwortung, die wir doch auch wollen und viele verlangt haben. "Wir glauben an die Vernunft unserer Bürgerinnen und Bürger", hat Ministerpräsident Volker Bouffier am Donnerstag gesagt. Zeigen wir den Politikern, dass wir das können. Abstand halten, Mund- und Nasenschutz dort tragen, wo es vorgeschrieben und sinnvoll ist (und zwar nur dort) und Rücksicht nehmen - egal, was wo erlaubt ist. Das ist und bleibt die Grundregel. Keiner will einen zweiten "Lockdown", das (verdammte) Coronavirus ist nicht weg. Wir haben es Alle selbst in der Hand. Bleiben wir vernünftig für unsere Mitmenschen und uns selbst. Vielleicht verändert das Coronavirus unsere Grundeinstellung: mehr Genießen weniger "immer schneller, weiter, höher". Dazu allerdings fehlt mir der Glaube - trotz der massiven Einschränkungen der vergangenen Wochen. +++