"Heimat unterm Hakenkreuz"

Mittwoch, 19.06.2019
von Joana Gibbe/pm
BAD SODEN-SALMÜNSTER - Die beiden Wahlpflichtkurse Geschichte der Jahrgänge neun und zehn von Ann-Kathrin Koch und Julia Czech stellten ihren Mitschülerinnen und Mitschülern ihr Jahresprojekt über die Zeit des Nationalsozialismus in ihrer Heimatregion vor.
Zu Beginn des Schuljahres reinigten und pflegten sie die Soldatengräber auf dem Salmünsterer Friedhof und lernten die individuellen Schicksalsschläge der Getöteten kennen. Unter anderem ein Schicksal packte sie besonders: Das eines Jungen, der in Salmünster von Tieffliegern tödlich getroffen wurde. Auch sein Grab findet man auf dem Salmünsterer Friedhof. Viele Jugendliche entdeckten auf den Gedenktafeln Namen ihrer gefallenen Verwandten und stießen so auf grausame Kapitel der eigenen Familiengeschichte.
Die Lehrerinnen Julia Czech und Ann-Kathrin Koch stellten Bücher zur Regionalgeschichte zur Verfügung, die Grundlage der Recherchen ihrer Schülerinnen und Schüler wurden. Insbesondere die Veröffentlichungen des Autors Gerhard Freund waren Quelle der Forschungen, ebenso wie die Webseite www.der-weltkrieg-war-vor-deiner-Tür.de . Auch eine schuleigene Veröffentlichung über die Geschichte der Juden von Salmünster, verfasst vom ehemaligen Lehrer Dr. Carlo Storch sowie Schülerinnen und Schülern seines damaligen Geschichtskurses, diente als Einstieg in das Thema „Heimat unterm Hakenkreuz“.
Parallel zur Projektarbeit der Harnischfeger-Schüler begann der Salmünsterer Verein Ensemble feel-X mit der Organisation einer Stolpersteinverlegung für Salmünsterer Opfer des Nationalsozialismus. Die Vereinsmitglieder Tanja Steinbock, Felix Wiedergrün und Thomas Hummel kamen auf die Schülerinnen und Schüler zu und luden sie zur Mitwirkung während der Stolpersteinverlegung am 8. November 2018 ein. Brigitte Steitz, die in Kontakt mit in Israel lebenden Nachfahren einer Salmünsterer Opfer-Familie steht, informierte die Jugendlichen über das Schicksal der Familien Grünebaum und Victor, die in der Frankfurter Straße in Salmünster lebten. Viele Familienmitglieder kamen in Konzentrationslagern um, nur wenige konnten vor den Nationalsozialisten fliehen.
Auch hier bewegte die Geschichte eines Gleichaltrigen besonders: Manfred Jakob Grünebaum, ein aus Salmünster stammender Junge jüdischen Glaubens, wurde von seiner Familie in einen Kindertransport nach England gesetzt, in der Hoffnung, ihn in Sicherheit zu bringen. In Holland jedoch wurde der Kindertransport von der Wehrmacht gestoppt und Manfred, damals 15 Jahre alt, in ein Konzentrationslager deportiert und getötet.
Von den Biografien ihrer getöteten oder vertriebenen Salmünsterer Mitbürger tief ergriffen, verlasen die Schülerinnen und Schüler die Namen der Opfer während der Stolpersteinverlegung und legten zum Gedenken eine Rose nieder. Auch an der Stolpersteinverlegung für den Salmünsterer Priester Joseph Müller, der von Roland Freisler, dem gefürchteten Obersten Strafrichter des NS-Regimes 1944 zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet wurde, weil er einen aus Sicht der Nationalsozialisten nicht angemessenen Witz erzählte, nahmen die Schülerinnen und Schüler teil.
Schockiert waren die Jugendlichen vor allem über die Gründung eines Vereins zur Arisierung Salmünsters gleich zu Beginn des Jahres 1933. In den Vereinsstatuten hieß es unter anderem, dass Arier, die bei Juden in Salmünster kaufen, gemeldet und öffentlich geächtet werden sollen.
Dies sei ein ungeheuerliches Tempo, mit dem die Nationalsozialisten um sich griffen, so die Schülerinnen und Schüler. Bereits vor dem neunten November 1938, der Reichspogromnacht, sei Salmünster „judenfrei“ gewesen. Dies sei ein Anzeichen für die frühen anhaltenden und zermürbenden Repressalien gegen Salmünsters jüdische Bevölkerung. Noch vor 1933 seien die jüdischen Mitbürger in Vereine integriert und gar in Vorständen aktiv gewesen. Auch bei der Grundsteinverlegung der Henry-Harnischfeger-Schule nahmen jüdische Bürgerinnen und Bürger wie selbstverständlich teil.
„Aus unserer Sicht waren die Arbeiten an dem Jahresprojekt „Heimat unterm Hakenkreuz“ eine spannende Reise durch die Vergangenheit, die die Schülerinnen und Schüler selbst auf unterschiedliche Art und Weise erforschen und entdecken konnten. Ihnen wurde durch dieses Projekt eindrucksvoll vor Augen geführt, dass die schrecklichen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs unter den Nationalsozialisten sich nicht nur „irgendwo in Deutschland – in Berlin, München oder Dresden“ abspielten, sondern eben genau hier vor ihren eigenen Haustüren, in ihren Heimatstädten und Dörfern. Ziel des gesamten Projektes war es, den Schülerinnen und Schülern „das Unfassbare“ dieser Zeit etwas begreiflicher zu machen und das eben genau vor Ort, wo sie heute leben und zur Schule gehen. Als pädagogisches Grundkonzept war es uns als Lehrerinnen wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler begreifen, dass sie keine Schuld an dem Gesehenen tragen, aber durchaus die Verantwortung haben, dass so etwas nie wieder in unserem Land geschieht. Die systematische Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung von Mitbürgern aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Einstellung sollte sich nie wieder in unserem Land wiederholen können. Dafür ist es wichtig, dass sich die heutige Jugend mit der Vergangenheit auseinandersetzt, die richtigen Schlüsse und Lehren daraus zieht und mithilft, die eigene Zukunft zu gestalten. Besonders die Beteiligung an der Stolpersteinverlegung war für alle ein bewegendes Ereignis, über das sich die Schülerinnen und Schüler auch noch heute austauschen.“, so die Lehrerinnen Ann-Kathrin Koch und Julia Czech der Wahlpflichtkurse Geschichte der Jahrgänge neun und zehn der Henry-Harnischfeger-Schule. +++