HANAU

Brauchen Kinder nach der „Corona-Pause“ jetzt schon wieder Ferien?

Prof. Dr. Matthias Wildermuth über die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nach dem Corona-Shutdown. - Foto: Vitos Herborn gemeinnützige GmbH


Sonntag, 05.07.2020

HANAU - Nach einem Schulhalbjahr, in dem es nur wenige Wochen normalen Unterricht gab, beginnen in Hessen die Sommerferien. Viele fragen sich, ob den Kindern und Jugendlichen nach dem langen Shutdown eine Unterbrechung von sechs Wochen gut tut. Professor Dr. Matthias Wildermuth, Ärztlicher Direktor der zukünftigen Vitos Klinik für Kinder-Jugend-Psychiatrie und Psychosomatik Hanau sowie der Vitos Klinik Rehberg, einer Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Herborn, bejaht dies eindeutig und erläutert, warum dies so ist. 

Wofür brauchen Kinder und Jugendliche jetzt Ferien? Es ist doch schon so viel Schule ausgefallen seit März 2020.

Kinder und Jugendliche brauchen wie alle Menschen auf der Welt Rhythmen, die in Zeiten eingebunden sind, in Jahreszeiten, in Zeiten von Arbeit und Ruhe und Erholung, so dass Schulferien kleine Abbilder dieser großen Rhythmen darstellen. Das gehört zu unserem salutogenetischen, die Gesundheit stärkenden Prozess des Lebens, der mit Riten verbunden ist, welche wir auch positiv erleben wollen. Das ist schwerer in Zeiten, in denen ein Shutdown existiert, in denen alle zurückgezogen und in ihren Wohnungen manchmal wie verborgen und damit auch vom Licht ausgeschlossen sind. Und manche sind leider schon durch ihre Mediennutzung aus diesen Rhythmen rausgekommen. Das alles schwächt die Kinder noch mehr als die Erwachsenen. Ferien sind in diesem Sinne Ergänzungen zu dem System, etwas für das Leben zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Ganz deutlich gesagt: Ferien sind nicht nur Chill-Zeiten, sondern Ferien sind Zeiten von Umspannung, von anderen Aktivitäten, von Interessensverlagerungen. Deshalb sind Ferien auch wichtig, selbst wenn die Kinder in der Schule vorher relativ wenig gefordert worden waren. 

War Corona-Frei also keine freie Zeit für Kinder und Jugendliche? 

Ferien sind dann Ferien, wenn sie einen Kontrast darstellen, und nicht, wenn sie zu einer Art Zwangsverordnung zum Fernbleiben von Schule benutzt werden. Ferien sind auch daran gebunden, dass die Eltern und Angehörigen diese Zeit als eine Art Erlaubnis zur Erholung wahrnehmen. Die Zeit, in der die Schulen geschlossen waren, war keine Ferienzeit.

Funktionierte denn in der Corona-Zeit die Schule in digitaler Form?

Schule hat natürlich in einer mehr oder weniger virtuellen Form tatsächlich stattgefunden. Da muss man differenzieren. Da gibt es Kinder und Jugendliche, die in einem bildungsnahen familiären System aufwachsen, wo gerade die virtuelle Form von Schule begleitet und gefördert wird, und bei den Kindern und Jugendlichen mit der nötigen Distanz versehen wird, damit sie auch ihren eigenständigen Weg gehen können. Aber in bildungsfernen, sozialpsychiatrischen sozialen Systemen, oder in Bereichen, wo die Erziehungs- und Beziehungsfähigkeit eher durch Passivierung bestimmt ist, sind solche Möglichkeiten nicht gegeben. Es gibt eine Untersuchung an einer Realschule, nach der der beste Schüler einer Klasse meinte, er habe 30 Prozent des Stoffes verstanden, und die, die noch weiter abgekoppelt waren, hatten das Gefühl gar nichts geleistet zu haben. 

Werden Jugendliche unter dem Gefühl leiden, dieses Mal mit den Zeugnissen eine unehrliche Einschätzung ihrer Leistung geschenkt bekommen zu haben? 

Manche werden darunter leiden, manche werden nicht darunter leiden. Alle die, die ein höher entwickeltes Gewissen ausgebildet haben und in ihrer sozio-moralischen Entwicklung auch wirklich eigenverantwortlich sind, werden das Gefühl haben, ich bin nicht genügend in dem, was ich bewertet haben will, bewertet worden, denn ich habe kein prüfendes Gegenüber gehabt. Sie werden deshalb eine kleine Krise haben. Und diejenigen, die denken, das Leben laufe ohnehin nach einem Zufallsprinzip, und die lieber Influencer sind, die werden sagen: Ich muss nur für mich werben, und wenn ich gut genug für mich geworben habe, dann spielt es keine Rolle, welche Schulnote ich habe. 

Brauchen Kinder eine ehrliche Bewertung – auch durch die Schule? 

Je jünger die Kinder sind, und je mehr sie noch den tief in uns anthropologisch verankerten Anspruch haben, sich zu entwickeln, und sich dem Erwachsenen freudig zu zeigen in dem, was sie entwickelt haben, und auf Antwort warten, die werden natürlich viel Enttäuschung verspüren. Und die Erstklässler, die in den Lockdown reingezogen worden sind, haben mittelfristig Lücken in der emotionalen Entwicklung, weil sie das Prinzip, schulreif zu werden, nicht wirklich spüren. Sie erleben sich eher nivelliert. Und wer sich selber eine Zeit lang nivelliert erlebt, nivelliert auch wirklich selber. 

Wie wichtig ist die Begleitung der Kinder und Jugendlichen in der Zeit von Corona durch die Lehrer? 

Für alle Kinder und Jugendliche kommt es darauf an, ob Lehrerinnen und Lehrer angerufen haben, gerade in psychosozialen Belastungsfamilien, wo große Angst vor dem Virus geherrscht hat, so dass die Kinder von ihren Eltern gar nicht begleitet worden sind, oder, was noch viel dramatischer ist, weil die Kinder und Jugendlichen gar nicht lernorientiert sein konnten, weil die familiären Spannungen, Krisen und eventuell auch Gefahrenmomente der Eltern untereinander, der Eltern gegenüber den Kindern und der Gewalt der Kinder untereinander so stark war, dass die Kinder und Jugendlichen davon zu stark absorbiert waren, so dass für Lernen und Schulstoff kein Platz war in ihrem Leben. 

Gibt es verlässliche Daten oder Schätzungen, wie stark sich das Leben in den Familien durch Angst oder Gewalt verändert hat?

Die gibt es nicht im großen Maßstab, aber wir wissen durch eine Untersuchung der Universität von Sheffield in England, dass unmittelbar nach Ankündigung des Lockdowns in Großbritannien wohl ein starker Anstieg von Depression und Angst bei etwa 20 Prozent unter 2000 repräsentativ befragten Personen zu verzeichnen war. Das betraf nicht speziell Kinder und Jugendliche, sondern die Eltern. Doch je jünger die Kinder sind, desto eher übernehmen die Kinder auch die unmittelbare Lesart der Wirklichkeit ihrer Eltern. Je stärker die Eltern auf die Belastung reagieren, umso stärker reagieren auch die Kinder. Eine zweite Zahl aus dem Havas-Media-Corona-Monitor besagt, dass die Alkoholkonsumrate um mindestens 14 Prozent gestiegen ist. 20 Prozent der Befragten hatten ihren Alkoholkonsum gesteigert. Besonders Jüngere hätten mehr getrunken und auch andere Trinkformen entwickelt wie etwa Trinkspiele oder gemeinsames Anstoßen im Videochat. Es gibt eine klare Steigerung des Cannabis-Konsums in Staaten, wo diese Droge legalisiert ist. 

Wie haben die Restriktionen, die vor Infektion schützen sollten, die Familien belastet? 

Durch die Corona-Restriktionen hat die Häufigkeit bestimmter Störungen deutlich zugenommen. Es sind fast nie klinische Störungen im engeren Sinne, aber die Angstbereitschaft hat sich gesteigert, die Stresstoleranz hat sich reduziert. Wir haben eine Überanpassung an die Situation beobachtet, also ein auffällig schnelles Reagieren selbst von hyperkinetisch auffälligkeitsgestörten Kindern, die sich plötzlich geradezu soldatisch verhalten konnten. Aber wir konnten durchaus erkennen, das nach zirka sechs Wochen die Anpassungsfähigkeit an die Grenze gekommen war und dann durchaus auch erhebliche Reizbarkeit entstanden ist, unter anderem unter Geschwistern, die dazu geführt hat, dass die klassischen Geschwisterthemen wie Rivalität, aber teilweise auch Probleme durch zu große Nähe bis hin zu inzestuösen Aspekten an Präsenz gewonnen haben. Summarisch kann man sagen, zunächst überwogen die Überanpassung, dann kamen die unklaren Ängste und Verunsicherungen, die ganz häufig im Zusammenhang damit stehen, dass Eltern den Kindern nichts erklärt haben, selbst verunsichert waren und den sozialen Abstieg fürchteten. Manche Eltern sind immer weniger auf ihre Kinder eingegangen. Die Eltern haben teilweise sehr viel bestellt für ihre Kinder im Internet, waren aber nicht verfügbar in dem, was das entscheidende ist: Nämlich in der Beziehung. 

Hat die Art der Information offizieller Stellen über die Pandemie die Angst beeinflusst? 

Die Angst, deren Entstehen wir beobachtet haben, hat durchaus damit zu tun, dass die Aufbereitung der Zahlen insgesamt durch die Informationspräger wie das Robert Koch Institut, die Medien oder auch Stakeholder wie den Virologen Drosten nicht immer so sorgfältig war, wie sie es hätte sein müssen. Es war nicht ganz klar, wie die Gefahrenlage für den einzelnen zu beurteilen war. Diese Informationen sind sehr unterschiedlich interpretiert worden. In Angstfamilien zogen sich alle zurück und machten ihre Desinfektionsübungen mit akribischer Genauigkeit. Für Familien im Laissez-Fair-Stil oder mit geringer ausgebildetem Gemeinsinn galt: Hauptsache, wir schützen uns. Die Mitglieder solcher Familien dachten unzutreffender Weise, die Maske schütze sie selbst, und sie warfen sie achtlos weg, wenn sie dachten, sie benötigten die Maske nicht mehr zum eigenen Schutz. 

Hintergrund: 

Die Vitos Klinik Rehberg ist eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie mit Hauptstandort in Herborn. Sie verfügt insgesamt über 117 Betten, 67 tagesklinische Plätze sowie Ambulanzen in Herborn, Gelnhausen, Hanau, Limburg und Wetzlar. Die Vitos Klinik Rehberg bietet Diagnostik und Therapie in Form ambulanter, tagesklinischer und vollstationärer Behandlungen an. Das Alter der Patienten liegt zwischen der Neugeborenenphase und 18 Jahren. Es werden seelische Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie sämtliche Störungsbilder in allen Schweregraden behandelt, bei denen psychische Ursachen oder Folgen im Vordergrund stehen.

Indes baut Vitos Herborn in Hanau eine neue Klinik. Denn bislang gibt es in der Region kein derartiges Angebot für junge Patienten mit seelischen Erkrankungen. Vitos Herborn hat als gemeinnützige Gesellschaft auch den kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsauftrag für die Region Hanau, westlicher Main-Kinzig-Kreis, Offenbach und Kreis Offenbach. Sie betreibt seit vielen Jahren eine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz und Tagesklinik sowohl in Hanau als auch eine weitere Ambulanz in Gelnhausen. In der neuen Klinik können bis zu 51 Patienten auf drei Stationen behandelt werden. Für den ambulanten und tagesklinischen Bereich sind 20 Plätze vorgesehen. Diese befinden sich derzeit noch an der Geibelstraße und werden nach Fertigstellung der Klinik an den Sophie-Scholl-Platz verlegt. Der Neubau ist hell, freundlich und modern gestaltet. Er setzt sich aus zwei nahezu baugleichen Gebäudeteilen zusammen, die durch einen Übergang verbunden sind. Beide Häuser bekommen einen eigenen Garten. Der Außenbereich wird gemeinsam mit der Schule für Kranke, einer Einrichtung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) für die schulpflichtigen Patienten, genutzt. Diese wird künftig im sanierten und umgebauten Nachbargebäude untergebracht sein. Das Gesamtvolumen für den Neubau auf dem Areal der ehemaligen „Hutier-Kaserne“ beträgt zirka 20 Millionen Euro. Die neue Klinik, in der die Behandlung aller kinder- und jugendpsychiatrisch relevanten Störungsbilder vorgesehen ist, soll voraussichtlich Ende 2020 in Betrieb gehen. (PM) +++

Neues Beliebtes
    Kontakt
    Kinzig.News Redaktion:
    Telefon:06051 88770 230
    E-Mail: [email protected]
    Kinzig.News Vertrieb:
    Telefon:06051 88770 180
    E-Mail: [email protected]
    Kinzig.Termine