Beinah ein Happy End

Der bescheidene Held im Hochwassergebiet

Eine von 60 Brücken, die einst über die Ahr führten. Übrig geblieben sind gerade mal zwei - Fotos: Privat


Donnerstag, 14.10.2021

BAD SODEN-SALMÜNSTER - "Bereits sein erster Satz machte mich baff. Auf Abstand nahmen wir Platz an den vordersten Tischen eines großen Besprechungsraums, der die nächsten 60 Minuten für unser Gespräch reserviert worden war. Mein Gegenüber schielte skeptisch auf mein Smartphone, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Ich nehme das Gespräch auf“, erklärte ich. Er nickte und schob mein Telefon wie ein unbekanntes Tier zaghaft ein Stück näher. „Ich kenn‘ mich mit den Dingern nicht aus“, sagte er nur. Und dann kurz nichts, bevor er klarstellte, was mich vollends überraschte: dass er nicht darauf aus war, irgendwo seinen Namen in dieser Geschichte zu lesen.

Sein Arbeitgeber, Kremer-Kautschuk-Kunststoff GmbH & Co. KG, ein mittelständisches Familienunternehmen mit Sitz in Bad Soden-Salmünster, hatte mich eingeladen, um von dem, was ihr langjähriger Mitarbeiter im vergangenen Monat erlebt hatte, berichten zu können. Als freiwilliger Helfer half er im Hochwassergebiet Ahrtal beim Wiederaufbau. Er leistete dort 237 Arbeitsstunden. Und bekam dafür sein gewohntes Gehalt von seinem Arbeitgeber.

Als ich davon hörte, kamen mir sofort einige Namen in den Sinn, die im Internet für ihr Engagement seit Wochen zu Helden gemacht werden. Gesichter, die inzwischen berühmt sind, und denen Menschen öffentlich danken. Doch dieser Mann, der länger im Katastrophengebiet mitanpackte als die meisten, nämlich ganze vier Wochen, verzichtet lieber darauf, namentlich genannt zu werden. Ich werde ihn deshalb im Folgenden einfach „Paul“ nennen und trotzdem versuchen, seine Geschichte zu erzählen.

Not und Zerstörung im Ahrtal

Auf Facebook sieht er die Bilder, die ihn nicht mehr loslassen. Eindrücke, die nicht für einen knackigen Beitrag zusammengestaucht sind, sondern die Not der Region zeigen, als hätte jemand den Blick unter das Pflaster einer Wunde gewagt. Eingestürzte Brücken. Entkernte Häuser. Weggespülte Straßen, in denen die Häuser in den Reihen fehlen, wie Zahnlücken. Herausgebrochen mit einem Faustschlag.

Der Faustschlag trifft das Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ungebremst. Mit einem Wasserstand der eigentlich ruhigen Ahr von 7 Metern. Durch den Dauerregen können die Böden nichts mehr aufnehmen. Menschen und Häuser werden davongespült. Zwischen  Sinzig bis Adenau fehlen seit dieser Nacht 500 Gebäude und über 3.000 sind beschädigt. Danach wird aufgebaut. Und gebaut. Und gebaut. Jeder hier baut. Ob er es kann oder nicht. Denn die Menschen hier stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.

Beinah malerisch, wie aus einem Reiseprospekt. Wenn die Zerstörung nicht unübersehbar wäre
Beinah malerisch, wie aus einem Reiseprospekt. Wenn die Zerstörung nicht unübersehbar wäre
Hier schlendert noch keiner durch die Fußgängerzone. Noch immer bestimmen die Trümmer das Ortsbild
Hier schlendert noch keiner durch die Fußgängerzone. Noch immer bestimmen die Trümmer das Ortsbild
Nach Feiern ist hier noch keinem Zumute. Das Ahrtal – noch immer an vielen Stellen ein Trümmerhaufen
Nach Feiern ist hier noch keinem Zumute. Das Ahrtal – noch immer an vielen Stellen ein Trümmerhaufen

Paul (Name geändert) will etwas tun: mauern

Paul, athletisch, blond und gebräunt, ist Allround-Handwerker. Und gelernter Maurer. Seit 16 Jahren arbeitet er als Kommissionierer in dem Unternehmen, bei dem er im August 2021 nach unbezahltem Urlaub fragte. Statt Kunststoffteile für den Versand vorzubereiten, will der gelernte Maurer im Ahrtal helfen. Seine Chefs, Gerhard und Julian Kremer, unterstützen sein Engagement mit Begeisterung. Und sind nur mit einer Sache nicht einverstanden: ihn nicht zu bezahlen. Sie sichern ihm sein Gehalt zu für den vollen Monat im hochwassergeschädigten Ahrtal. Und helfen bei der Suche nach einem konkreten Projekt, stellen den Kontakt zu einer Hilfsorganisation her und organisieren die Unterkunft vor Ort.

Jeder Wiederaufbau beginnt mit einem ersten Zuhause

Sie treffen auf Katja. Das Haus ihrer Mutter ist seit der Flut unbewohnbar. Ein Skelett aus Mauern und Stützbalken. Sie telefonieren. Und verabreden sich. Paul besorgt sich eigenständig Baumaterial. Einen örtlichen Baumarkt fragt er nach einer Spende. Er bekommt sofort dringend benötigte Ware im Wert von 500,00 Euro.

Am 3. September steht Paul dann mit Katja in Sinzig, nur wenige Schritte von der Ahr entfernt, die inzwischen wieder unschuldig das Tal heruntertänzelt. Katja erzählt von ihrer Mutter, die seit der Flut in einer Alteneinrichtung untergekommen ist, und sich von Herzen wünscht, in ihr Haus zurückzukehren. Paul nickt. Und packt es an.

Von morgens bis abends arbeitet Paul nun jeden zweiten Tag hier am Haus: legt Estrich, stellt Wände, verputzt, streicht und verlegt neue Böden. An den Tagen dazwischen sitzt er schon früh beim Helfer-Shuttle, der privaten Initiative Ahrtaler Unternehmer, die Freiwillige und Hilfesuchende zusammenbringen. 

Hier bekommt er morgens einen Kaffee, ein Frühstück und einen direkten Auftrag. Und erfährt später im Gespräch etwas über das persönliche Schicksal, das damit verbunden ist. Das Erzählen hilft den Betroffenen. Der Mann, der selbst nicht gern im Mittelpunkt steht, hört aufmerksam zu.

Im Gegensatz zu mir hat er dadurch Gesichter zu einer Tragödie, die ich nur aus der Vogelperspektive kenne. Namenlos, als schematische Darstellung von Hochwasserstand und Ausmaß der Überschwemmung. Und ich kriege, wie er mir jetzt davon erzählt, zumindest eine Ahnung von ihren bewegenden Geschichten.

Wie die der 4-fachen Mutter. Die als Tagesmutter fünf weitere Kinder betreut. Und mit den Kindern nicht mehr nach draußen kann, seitdem das Wasser ihren Garten verschluckt hat. Für sie pflastert der gelernte Maurer zwei Terrassen. Ein paar Quadratmeter Normalität. Landgewinnung gegen die Zerstörung.

Solidarität und Gemeinschaft unter den Helfern

Wie viele andere Freiwillige holpert er täglich durch die Reste der Straßen und sucht Wege durch die zerstörte Infrastruktur entlang der Ahr. Gemeinsam sitzen die Helfer bei Tisch im Helferzelt. Wenn er nicht ohnehin von den Antragstellern mitversorgt wird, wie ein Mitglied der Familie. 145.878 Helfer zählt Helfer-Shuttle.de auf ihrer Website bis zum 07. Oktober. Viele leisten die Hilfe am Wochenende oder in ihrem Jahresurlaub – natürlich unentgeltlich. Paul ist Teil dieser beispiellosen Gemeinschaft. Und doch sticht er heraus: Mit der Lohnfortzahlung und Freistellung seines Arbeitgebers hat der gelernte Maurer die Chance, länger zu bleiben, als üblich. Wenn er sagt, wie lange er bleibt, staunen die Leute.

Beinah ein Happy End

Nach vier Wochen, am 30. September, dem letzten Tag seines Einsatzes im Ahrtal, verlegt er die letzte Platte Vinyl-Boden. Katjas Mutter kann in ihr Haus wieder einziehen. Das ist das Happy End, wenn man es schafft den Rest des Ahrtals auszublenden. Aber das macht Paul nicht. Er spricht vom Winter und den fehlenden Heizungen und den Vorarbeiten, die er als Maurer dafür vor Ort noch machen will. Mit seinen Gedanken ist er längst wieder im 220 Kilometer entfernten Seitental des Rheins. Und ihren Menschen.

Im Besprechungsraum wird es still. Ich merke schon: Am liebsten würde er wieder etwas tun, statt hier zu sitzen und zu reden. Er will mir Fotos zeigen. Auf denen er selbst nicht drauf ist. Dafür aber die leergespülten Ortschaften. Und seine Arbeit: die Häuser, Wände, Böden, und Terrassen. Ich blickte auf die Uhr hinter mir und war verblüfft, dass die 60 Minuten bereits um sind; vertrieben von den knappen, bewegenden Sätzen meines Gesprächspartners. Die Fotos nehme ich mit. Zuhause am Rechner schaue ich mir jedes Foto aufmerksam an. Ich habe das Gefühl, es ist das Mindeste, was ich tun kann, um zu würdigen, was Paul und all die anderen freiwilligen Helfer im Ahrtal bis heute geleistet haben. Und es noch tun werden. Und endlich denke ich auch darüber nach, dass auch ich helfen könnte. Irgendwie. Ein ganz neuer Gedanke." (pm)

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