Dramatische Zustände in der Pflege: "Hier verliert man seinen letzten Rest Würde"

Donnerstag, 12.03.2020
von MORITZ PAPPERT
MAIN-KINZIG-KREIS - Dramatische Zustände in Pflegeheimen sind leider keine Ausnahmen. Vor wenigen Wochen berichtete KINZIG.NEWS bereits über ein Pflegeheim im Main-Kinzig-Kreis, in dem Bewohner in menschenunwürdigen Verhältnissen leben (hier gehts zum Artikel). Die Zuschriften auf unseren Aufruf, uns weitere Fälle zu melden, waren erschreckend. In mehreren Pflegeheimen im Kreis sind die Zustände offenbar ähnlich. Teilweise sogar noch schlimmer.
Eine Leserin berichtet gegenüber KINZIG.NEWS von einem Heim, in dem ihr Vater untergebracht war. „Wir hatten nach verschiedenen Gesprächen dort ein gutes Gefühl. Aber erst später ist uns aufgefallen, wie unschön es dort ist“, so die Leserin. Die Zimmer seien total verwohnt gewesen, das Ambiente schlecht. Niemand habe sich um den Vater gekümmert, nicht einmal Zeit zum Füttern sei gewesen. „Wenn er auf Toilette musste, hat er geklingelt. Doch niemand kam. Es war ja kein Notfall. Es wurde in Kauf genommen, dass mein Vater ins Bett macht.“
Was können Betroffene tun? Wie findet man das richtige Pflegeheim?
Die Leserin bezeichnet die Zustände dort als „menschenunwürdig“. Aufgrund einer Krankheit des Vaters konnte er ein bestimmtes Lebensmittel nicht essen. „Wir haben das dem Personal mitgeteilt, doch er bekam jeden Tag wieder das Lebensmittel zum Essen.“ Wenige Monate später verstarb der Senior schließlich. "Hier verliert man seinen letzten Rest Würde", habe der Vater gesagt. Dagegen vorgegangen ist die Leserin nicht. „Wir hatten einfach keine Kraft dafür“.
Doch was können Betroffene in einem solchen Fall tun? An wen kann man sich wenden? Wir haben darüber mit Gerold Witzel, Leiter der Betreuungs- und Pflegeaufsicht Fulda gesprochen. Das Hessische Amt für Versorgung und Soziales in Fulda ist auch für den Main-Kinzig-Kreis zuständig.
Was kann man tun, wenn man merkt, dass das Pflegeheim eines Angehörigen in schlechtem Zustand ist bzw. der Angehörige dort nicht die nötige Pflege bekommt? Wie kann man dagegen vorgehen? An wen kann man sich als Angehöriger wenden, um Probleme zu melden?
"Ich würde zunächst empfehlen, das Gespräch mit den Ansprechpartnern in der Pflegeeinrichtung vor Ort oder dem Träger zu suchen. Sollten hier die Gespräche nicht zum Erfolg führen, ist es sinnvoll, Kontakt mit der örtlich zuständigen Betreuungs- und Pflegeaufsicht aufzunehmen. Auf Wunsch behandeln wir die Informationen auch vertraulich. Wir überprüfen die Einrichtung, beraten und fordern die Abstellung der festgestellten Mängel, bleibt diese aus, erlassen wir entsprechende Anordnungen. Zum Beispiel können wir die Einrichtung verpflichten, mehr Personal einzusetzen, bestimmte Pflegestandards einzuhalten, eine angemessene Betreuung sicherzustellen oder erforderliche Hygienestandards einzuhalten. Verstöße gegen angeordnete Verpflichtungen werden mit Zwangsgeldern geahndet. In einigen Fällen untersagen wir der Einrichtung auch die Aufnahme neuer Bewohner, bis eine adäquate Pflege und Betreuung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner sichergestellt werden kann. In Extremfällen können wir die Einrichtung sogar schließen."
Welche Rechte hat man?
"Bei unzureichender oder nachweislich schlechter Leistung der Pflegeeinrichtung haben Bewohnerinnen und Bewohner gegebenenfalls Rückerstattungsansprüche. Daneben sind Ansprüche auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld denkbar, wenn Pflegemängel zu einer Gesundheitsbeeinträchtigung geführt haben sollten. Hierbei handelt es sich jedoch um zivilrechtliche Ansprüche, die die Bewohnerinnen und Bewohner bzw. deren Angehörige selbst geltend machen müssen."
Lohnt es sich als Privatperson überhaupt, dagegen vorzugehen?
"Ja, mit einem Hinweis an die Betreuungs- und Pflegeaufsicht können Sie dazu beitragen, dass sich die Zustände in der Einrichtung nachhaltig verbessern. Denn eine Beseitigung von Mängeln können wir nur dann anordnen, wenn wir durch möglichst konkrete Informationen davon erfahren und diese in der Einrichtung feststellen. Dazu sind wir auf Hinweise von Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Angehörigen oder von Pflegekräften angewiesen."
Woran erkennt man ein gutes Pflegeheim? Was sollte man tun, bevor man ein Heim auswählt?
"Ein gutes Pflegeheim zeichnet sich etwa durch eine gute Führungsstruktur, Personalausstattung, motivierte und qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein umfassendes Betreuungsangebot, eine qualitativ hochwertige und ausgewogene Essens- und Getränkeversorgung sowie solide bauliche Voraussetzungen aus. Nicht alle Faktoren kann ein Außenstehender unmittelbar beurteilen. Einen ersten Eindruck ermöglicht ein Besuch in der Pflegeeinrichtung. Vielmals gibt es hier Einrichtungsberatungen, die gerne ein Musterzimmer und die Gemeinschaftsräume zeigen.
Ich empfehle auch, falls dies möglich und nicht aus Zeitdruck eine sofortige Entscheidung erforderlich ist, erst einmal eine temporäre Unterbringung im Wege der Kurzzeit- oder Verhinderungspflege. Hierbei muss ich jedoch anmerken, dass es mittlerweile schwieriger geworden ist, einen Heimplatz zu bekommen. Die Auswahl ist leider derzeit oft begrenzt, gerade wenn man einen Platz in Wohnortnähe der Angehörigen sucht." +++