Symposium zum Auftakt des Helle Marktes in Schlüchtern

Sonntag, 01.05.2022
von WALTER DÖRR
SCHLÜCHTERN - Der Bodo hat mit seinem Bagger ganz schön den Planemächer-Platz vor der Stadthalle und den Schlösschengarten in Schlüchtern verwüstet. Oder war es im Genterzeitalter auch eine Baggernde, die mit schwerem Gerät im Rahmen der laufenden Umbaumaßnahmen gravierende Erdbewegungen gemacht hat?
Ein ausgelegter blauer Teppich von der Schloßstraße zur Stadthalle ermöglichte, dass Männlein, Weiblein oder sonstige sauberen Schuhs die gute Stube Schlüchterns erreichten, wo am Freitagabend das Bühnenprogramm am diesjährigen Helle Markt mit dem Symposium „Frauen.Power.Land“ eröffnet wurde. Hochkarätig bezeichnete die veranstaltende Stadt in der Ankündigung das weiblich besetzte Podium – im wahrsten Sinne des Wortes und ohne Hintergedanken passend. Geschlechtlich anders und ausdrücklich genehmigt war Tobias “Tobi“ Kämmerer, eigentlich als Macher der hr3-Mornigshow im Radio ein Frühaufsteher, der den geballten Frauen-Power-Abend moderierte. Schlüchterns Bürgermeister Matthias Möller begrüßte die zahlreichen Gäste – entsprechend den statistischen Fakten – mit einem kleinen Frauenüberschuss.
Nach drei Jahren wage man wieder einen Schritt in die Normalität, so der Bürgermeister. Ein tolles Programm sei für den Helle Markt zusammengestellt worden und Möller dankte seinem Team für die Organisation. Über 100 Stände gebe es verteilt in der Stadt und ein Symposium habe zum Marktauftakt Tradition. Ein Willkommensgruß galt dem Landtagsabgeordneten Markus Hofmann, pauschal allen anwesenden Vertretern politischer Gremien und Grit Ciani, der Beauftragten für Frauenfragen und Chancengleichheit im Main-Kinzig-Kreis. Dass das Symposium stattfinden kann, ist ein Verdienst von Gerd Neumann, Vorstandsmitglied des Vereins für Wirtschaft und Tourismus (WITO) und hier Bereichsleiter Kultur & Tourismus. Der Bürgermeister übereichte als Dank eine Regiobox und einen Blumenstrauß an die Ehefrau. Der Vorsitzende des geschäftsführenden WITO-Vorstandes Axel Ruppert bezeichnete Neumann als den kreativen Kopf und lobte seine Hartnäckigkeit, mit der ihm das Programm und die hochkarätige Besetzung des Podiums gelang. Wunsch und Realität lägen oft auseinander und als Vater von vier Mädchen wisse er, dass im Alltag andere Antennen ausgefahren werden. Zu Beginn spielte die Projektband „Luftschlossprinzess:innen“ mit Sängerinnen und MusikerInnen aus Schlüchtern, Fulda und Frankfurt.
Moderator Tobi Kämmerer betonte einleitend, dass nicht nur Frauen auf der Bühne sein werden. Er sei ein Mann. Es sei nicht irritierend, nicht schlecht und gebe vielleicht ein Impuls, wenn beide Geschlechter auf der Bühne sind. Jedenfalls seien tolle Frauen da. Doch bevor die Talkrunde begann, gab es eine von Choreografin Monica Opsahl einstudierte Tanzdarbietung der Gruppe „Artodance“. Die fünf Tänzerinnen zeigten eine choreografierte Metapher „Fuck Apple“, die uralte Geschichte aus dem Garten Eden, was damals mit den Frauen schiefgelaufen ist. Powerpoint unterstützt hielt die Wiener Trendforscherin und Chief Executive Officer (geschäftsführender Manager, CEO) des Zukunftsinstituts Horx, Oona Horx-Strathern, einen lockeren Vortrag – auch durch ihren Englisch-Slang, den die gebürtige Irin hat. Einen Megatrend sah sie im Gender-Shift (Geschlechterverschiebung). Das Land mit der höchsten Geschlechtergleichheit, eine Grundlage für ein glückliches Leben, wollte sie vom Publikum wissen und gab Dänemark, Costa Rica, Island und Deutschland zur Auswahl. Es ist Island, Deutschland kommt laut Global Gender Report auf Platz 11 vor Nicaragua. Starke Frauen habe Island, 12 Monate Elternurlaub, eine gute Kinderbetreuung.
Wie gleich und normal Mann und Frau gesehen werden, belegte die Referentin an der Aussage eines Kindes, das fragte, ob auch Männer Präsident in Island werden können. Wie Horx-Strathern sagte, habe Island 366.425 Einwohner und der Main-Kinzig-Kreis 418.950 Einwohner. Da könnte was gehen mit starken Frauen. Wie in Zukunft gelebt wird, gelte es zu gestalten. Weiblichen Nachholbedarf wurde aufgezeigt. Frauen in Männerdomänen, im Sport (boxen), in der Städteplanung (15-Minuten-Stadt, Frauen bewegen sich anders), Straßenbezeichnungen nach Frauen. Anstatt das von Männern erfundene „Hoffice“ „She Sheds“ das Gartenhäuschen für eine Sie, Co-Working für Frauen – viele Chancen für die Zukunft. Ein erschreckendes Foto zeigte Oona Horx-Strathern abschließend von der Sicherheitskonferenz 2022 in München: nur Männer. „Ich wünsche eine gute Zukunft,“ so die Referentin.
Mit der Frage, ob sich Monika Humpert noch in der katholischen Kirche zuhause fühlt, leitete Tobi Kämmerer auf die nächste starke Frau im Podium über. Monika Humpert ist Rechtsanwältin, Katholikin und Mitbegründerin der bundesweit agierenden Aktion „Maria 2.0“. Die Bewegung setzt sich für Reformen in der katholischen Kirche und für Gleichberechtigung von Mann und Frau ein. Stärke zeigen, Solidarität und auch Streik – das ist Motivation. Die Anwältin sieht in der Kirche eine gesellschaftliche Komponente. Sie dümpele so vor sich hin und man bekomme von ihr nichts. Eine Kirche als Ort der Enttäuschung, das dürfe nicht sein. Eine Kirche ohne Hoffnung geh nicht, deshalb kämpfe sie und die anderen Frauen. Für eine vernünftige Religion und mit Verstand, dass nicht in Aberglaube abgeschweift werde. Ein Austritt aus der katholischen Kirche ist keine Option. Die Missbrauchsstudie sei erschütternd gewesen, eine Welt zusammengebrochen. Anwaltlich scharf formuliert habe man dem Bischof die Wünsche von Maria 2.0 geschrieben. Die Brennerin Franziska Bischof aus Wartmannsroth, einem fränkischen 350-Seelen-Ort, ist auch eine Powerfrau. Sie drang quasi aus familiären Gründen in eine Männerdomäne ein – weil sie als Tochter den Traditionsbetrieb übernahm.
Nach dem Abitur ging sie zum Studieren nach Italien. Nur die Brennerei zu übernehmen, sei anfangs vom Vater kritisiert worden. „Mein Vater freut sich doch, aber er gibt es nicht zu,“ wusste die als „Best Female Destiller“ Ausgezeichnete. „Wenn man was machen will, findet man einen Weg dazu,“ motivierte die 33-jährige Edelbrandsommeliere und Unternehmerin. Nur rund 20 Prozent der Brenner seien Frauen. Dass Frauen extra bei „Best Female Destiller“ prämiert werden, sieht Bischof als Marketingmaßnahme zur Förderung der Frauen in der Männerdomäne. Kritik übte sie aber an einer Ungleichheit, dass nämlich Frauen 5 Mal mehr beweisen müssten als ein Mann. Wie es in ihrer Destillathek weiter geht, weiß sie nicht – sie hat nur Töchter. Da Seyran Ates in Schlüchtern zu Gast war, war Security-Personal und auch Polizei vor Ort. Die Rechtsanwältin, Autorin, Frauenrechtlerin und Imamin aus Berlin muss nämlich nach einem Attentat von einem Mitglied der nationalistisch, faschistischen türkischen Organisation „Graue Wölfe“, bei dem sie lebensgefährlich verletzt wurde und folgend mehreren Morddrohungen bekam, mit Polizeischutz leben.
Wie sie sagte, ist die gebürtige Istanbulerin für den Polizeischutz dankbar und dass sie in einer Demokratie leben kann. Seyran Ates setzt sich gegen das falsche Islamverständnis der Geschlechtertrennung und die Unterdrückung der Frauen ein. Ates war Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die für einen liberalen Islam steht, und tritt für eine zeitgemäße und geschlechtergerechte Auslegung des Koran ein. Sie war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und nahm am Integrationsgipfel der Bundesregierung teil. 2007 wurde Seyran Ates mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. „Bei den Frauen gibt es viele Baustellen,“ konstatierte sie. “Man muss etwas gravierend ändern,“ ist ihr Angebot an die Männer für eine bessere Welt. Auf die Frage des Moderators, ob die Morddrohungen Auswirkungen auf ihr Engagement habe, sagte Seyran Ates: Jetzt erst recht im Glauben gestärkt für Frauenrechte einsetzen und gegen Islamisten und eine Mehrheitsgesellschaft. Das Bild Frauen an den Herd gelte nicht mehr.
Seyran Ates warb für die Akzeptanzkampagne ihrer Moschee „Liebe ist halal“. Es gebe keine islamische Rechtfertigung, gleichberechtigte und aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen zu verbieten. Ates hat keine Angst vor dem Tod. Sie kämpfe für eine freie Gesellschaft: „Ich bin mit Personenschutz viel freier als andere.“ Die Forumsgespräche endeten mit der Vervollständigung der Moderator-Vorgabe: Dinge laufen wie ich es wünsche. „Unmögliches fordern, weil es möglich ist“, „die Welt wird immer freundlicher, glücklicher und die Umwelt wird nicht leiden“, „mehr weibliche Zukunft fordern“ und „50 Prozent Frauen vertreten würde vieles verändern.“ Im Foyer der Stadthalle war das Catering der Gastronomie „Jedermanns“ vertreten, außerdem Infostände des Bezirkslandfrauenvereins Schlüchtern, des Vereins „Archiv Frauenleben im Main-Kinzig-Kreis und der Breitband Main-Kinzig-Kreis GmbH sowie eine Verkostungsmöglichkeit der Edelbrennerei Bischof.
Übrigens: Die absolute Gleichstellung der Geschlechter, eine echte Chancengleichheit und natürlich auch die gleiche Entlohnung für die gleiche Arbeit strebt das sogenannte schwache Geschlecht berechtigterweise und grundgesetzlich verankert an. Wie die Stadtzeitung Schlüchtern vom Verein für Wirtschaft und Tourismus (WITO) herausgefunden hat, ist der Bergwinkel quasi eine Musterregion, denn die Hälfte der Schlüchterner Unternehmen werde von Frauen geführt und auch bei der Stadt seien vier der fünf Hauptämter frauengeführt – dem Magistrat gehören aber nach dem Willen der Wahlbürger/Innen fünf Männer und nur zwei Frauen an.